: Kleine Denkmäler gegen das Vergessen
■ Ein jüngst erschienenes Buch erzählt die Geschichte der Juden in Pankow und ihrer Verfolgung und Ermordung, aber auch des Widerstands im nationalsozialistischen Deutschland
„Wieder einer auf der Flucht, abgehetzt: die Gestapo hatte ihn abholen wollen, er konnte entkommen. Ich kann ihn in dieser Lage, in der ich die Gestapo erwarte, nicht hereinlassen. Die Nacht nimmt ihn wieder auf, es war hart und bitter. Ich warte weiter, nichts geschieht – wir waren nicht ,dran‘“. Durch Freunde hatte Rudolf Dörrier erfahren, daß die Nazis seine Ehefrau Lily deportieren wollten. Am Abend des 4. März 1943 erwartete er die Gestapo, seine Frau war nach Braunschweig geflohen. Als es klingelte, rechnete Rudolf Dörrier mit dem Schlimmsten. Doch vor der Tür stand der jüdische Onkel seiner Frau, der sich ebenfalls auf der Flucht vor den Nazis befand. Dörrier mußte seinen Verwandten weiterschicken, um ihn nicht zu gefährden. Rudolf und Lily Dörrier überlebten den Holocaust, weil sie es immer wieder verstanden, den Behörden des Unrechtsstaats ein Schnippchen zu schlagen.
Dieses Glück hatten nur wenige. 290 Juden aus Pankow kamen mit dem Leben davon. 1933 zählten die jüdischen Gemeinden in Pankow noch über 2.000 Menschen. Von dem Leben der Juden, dessen Existenz und Erinnerung daran die Nazis radikal auslöschen wollten, erzählt das Buch „Jüdisches Leben in Pankow“, das am 10. November im Rathaus Pankow vorgestellt wurde.
Versucht man heute noch, auf den Spuren jüdischer Kultur in Pankow zu wandeln, so ist das ein schwieriges Unternehmen. Die jüdische Synagoge in der Schönholzer Straße 10/11 ist ein Wohnhaus. In dem ehemaligen jüdischen Waisenhaus in der Berliner Straße – in der Nähe des Bahnhofs Pankow – befand sich bis 1989 die kubanische Botschaft. Nichts weist auf die frühere Bedeutung der Gebäude hin. Lediglich eine Bronzetafel am Haus der Wilhelm-Weber-Straße 30/32 ist dem jüdischen Kinderheim gewidmet. Zeitzeugen erzählten, wie Schergen des NS-Staates im Herbst 1942 die Säuglinge des Kinderheimes in einen Wagen warfen und die größeren Kinder unter Gebrüll hineinprügelten. 150 Kinder und Säuglinge fielen diesem antisemitischen Willkürakt zum Opfer.
Doch Juden waren nicht nur Opfer. Sie setzten sich auch im Widerstand zur Wehr. „In der Zeit von 1934 bis 1939 wurde ich in der CSR im Zusammenhang mit meinen illegalen Grenzübergängen sowie meiner politischen und gewerkschaftlichen Aktivität dreizehnmal verhaftet“, berichtete der Sozialist Siegmund Spieler von seiner Untergrundarbeit. Als er 1946 nach Pankow zurückkehrte, erfuhr er, daß sein Sohn bei medizinischen Experimenten der Nazis umgebracht wurde. Im Gegensatz zu so vielen anderen Menschen in der Nachkriegszeit zog sich Siegmund Spieler nicht aus der Politik zurück, sondern übernahm vielmehr 1953 als Hauptdirektor der Ostberliner Verkehrsbetriebe eine wichtige Position im öffentlichen Leben.
Die vielen Einzelschicksale, die in dem Buch nachgezeichnet werden, setzen den Juden, die sonst dem Vergessen anheimgefallen wären, kleine Denkmäler. Dieses Stück Erinnerungsarbeit war auch der Auslöser für die Entstehung des Buches. „Während der Ausstellung über Juden in Pankow vor zwei Jahren wollten gerade junge Menschen mehr über dieses Thema erfahren, deshalb übernahm ich die Erstellung dieses Buches“, sagte Doktor Inge Lammel anläßlich der Buchpräsentation. Gemeinsam mit Lehrern, Historikern und Journalisten hat sie das dunkle Kapitel deutscher Geschichte sozusagen vor der eigenen Haustür erforscht. Die Musikwissenschaftlerin Lammel ist als Jüdin selber Betroffene des Antisemitismus im Nationalsozialismus gewesen. Mit ihrer Arbeit nimmt sie ihr Schicksal in die eigene Hand und will dem wieder zunehmenden Antisemitismus etwas entgegensetzen. Thomas Nagel
Das Buch „Jüdisches Leben in Pankow – Eine zeitgeschichtliche Dokumentation“ – herausgegeben vom Bund der Antifaschisten Pankow e.V. – ist für 24 Mark im Buchhandel erhältlich.
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