Klaus Böldl über Island-Sagas: "Als ob sie im Schwarzwald spielten"

Für systematische Nazi-Propaganda waren die Isländer-Sagas zu komplex. Versucht hat man es dennoch - mit der verrufenen "Thule"-Übersetzung. Der Kieler Skandinavist Klaus Böldl hat die Sagas erstmals wieder komplett auf Deutsch ediert.

Ort der Vulkane und Sagas: Island. Bild: dpa

taz: Herr Böldl, warum wurden die Isländer-Sagas geschrieben?

Klaus Böldl: Genau wissen wir es nicht. Ein Grund könnte sein, dass sich die Isländer im 13. Jahrhundert ihrer eigenen, nationalen Identität versichern wollten. Deshalb beriefen sich die anonymen geistlichen und weltlichen Verfasser der Sagas - meist waren es wohl Auftragswerke - auf die alten Überlieferungen von der Landnahme und der frühen isländischen Gesellschaft.

Warum brauchte Island plötzlich eine nationale Identität?

Unter anderem, weil man sich von Norwegen bedroht sah, das sich Island einverleiben wollte. Auch innerlich war Island instabil, denn es herrschte eine Art Bürgerkrieg.

Warum?

Da das mittelalterliche Island nicht von König oder Adel, sondern von Großbauernfamilien regiert wurde, war der Konsens dieser Sippen sehr wichtig, damit die Gesellschaft funktionierte. Der geriet aber im 13. Jahrhundert aus den Fugen, weil einige Familien immer mehr Macht an sich rissen - auf sehr blutige Art. Das führte in den 1260er-Jahren dazu, dass sich Island freiwillig dem norwegischen König unterstellte, damit der für Ruhe sorgte.

Wer beschloss das?

Die Thing-Versammlung, eine Art Parlament, wo sich die freien Bauern trafen. Wobei letztlich natürlich die mächtigen Familien entschieden, was passierte.

47, ist seit 2007 Professor der Universität Kiel für mittelalterliche Kultur- und Literaturgeschichte Skandinaviens und schrieb unter anderem den Reiseroman "Die fernen Inseln" über Island und die Färöer-Inseln.

Die Verursacher des Konflikts entschieden, dass Norwegen ihn beenden sollte?

Ja. Wobei man bedenken muss, dass sich dieser Konflikt allmählich entwickelte und viele Väter hatte. Am Ende bekriegten sich nur noch zwei, drei Familien - auch intern. Viele andere, vorher mächtige Familien standen außen vor. Und die waren einhellig der Meinung, dass dieser Zustand aufhören müsse.

Sind alle Sagas während dieses Bürgerkriegs entstanden?

Die meisten. Einige auch danach. Sie reflektierten die Fehden im Nachhinein und rekonstruierten ein ideales, vergangenes Land, in dem die Menschen ihre Konflikte noch selbst regelten. Denn in den Sagas geht es ja oft darum, dass blutige Konflikte ausbrechen. Und am Ende fast jeder Saga beugen sich die verfeindeten Familien einem Rechtsspruch.

War das eine versteckte Gesellschaftskritik?

Letztlich ja. Denn auch dazu dienten die Sagas: den Zeitgenossen zu zeigen, dass man Konflikte auch unblutig lösen kann.

Die 1930 abgeschlossene Übersetzung der "Thule"-Reihe ins Deutsche gilt als ideologisch belastet. Warum?

Hauptproblem dieser Ausgabe ist, dass man die Sagas nicht als isländische Literatur des Mittelalters verstand. Stattdessen sah man in den Sagas die letzten Ausläufer einer germanischen Erzählkultur. Man glaube ein lebensnahes Erzählen vor sich zu haben, das sich unabhängig von den christlichen und klassischen Vorbildern entwickelt hatte. Das spezifisch Isländische und das Literarische an den Texten blendete man aus.

Was bedeutete das für die Übersetzung?

Dass man die isländischen Namen - meist sprechende Naturnamen - wörtlich ins Deutsche übersetzte. Da wird dann aus Rejkjavik "Rauchbucht". So wurden die Texte ent-islandisiert, indem man sie ihrer konkreten Schauplätze beraubte. Stattdessen wurden sie in einem vagen germanischen Raum angesiedelt. Mitunter hört sich das dann an, als ob die Sagas im Schwarzwald spielten.

Die Isländersagas (Íslendingasögur) sind Prosa-Erzählungen, die als zentraler Beitrag Islands zur Weltliteratur gelten.

Verfasst wurden sie im 13. und 14. Jahrhundert.

Themen sind die Landnahme im 9. und 10. Jahrhundert sowie die Organisation der Gesellschaft, ihre Rechtsstreitigkeiten, das Verhältnis zu Norwegen sowie die Verteilung von Macht und Wohlstand.

Überliefert sind ungefähr drei Dutzend Isländersagas. Die jetzt von Klaus Böldl edierte Ausgabe enthält rund 25 Sagas sowie 40 kürzere Erzählungen.

Nutzten die Nazis die "Thule"-Übersetzung zur Propaganda?

Teilweise ja, aber wohl nicht in großem Umfang. Diese Texte sind ja recht kompliziert und eigneten sich nicht für eine "volksnahe" ideologische Nutzung.

Ist die von Ihnen betreute Übersetzung die erste seit der "Thule"-Ausgabe?

Der Diederichs-Verlag, der die "Thule"-Reihe ediert hatte, plante in den 90er-Jahren eine zeitgemäßere Ausgabe. Das war wohl als "Wiedergutmachung" gedacht. Als der Verlag in einem größeren Konsortium aufging, wurde das anspruchsvolle Projekt allerdings nach nur wenigen Bänden eingestellt.

Wenn die Lektüre so anstrengend ist - warum sollte man es trotzdem versuchen?

Es gibt da zwei Zugänge: einmal die historisch interessierten Leser, die die mittelalterliche Lebenswirklichkeit in den Sagas aufspüren wollen. Auf der anderen Seite die eher literarisch Interessierten, die die Sagas als gut erzählte Geschichten wahrnehmen.

Was fesselt Sie an den Sagas?

Eine Mischung aus beidem. Es ist einerseits erstaunlich, wie komplex und raffiniert viele der Texte gebaut sind. Andererseits bieten sie spannende Informationen zur Mentalitäts- und Religionsgeschichte sowie zur Geschichte der Wikingerzeit.

Die Sagas lesen sich recht dröge. Hat Sie das nie gestört?

In meinen Studienanfängen hat mich das sehr gestört - vor allem, als ich Sagas übersetzen und Klausuren darüber schreiben musste. Aber wenn man erst mal verstanden hat, warum die Sagas so daherkommen, und wenn man die subtilen Dinge in dieser scheinbar spröden Sprache entdeckt, dann hat man's geschafft.

Warum sind die Sagas so trocken geschrieben?

Sie kommen für den Leser manchmal etwas hölzern daher, weil sie für den öffentlichen Vortrag gedacht waren. Das bedeutet, dass man eine eher einfache Sprache nutzt und bestimmte formelhafte Wendungen einbaut. "Ein Mann hieß Soundso": Dieser Satz kommt in jeder Saga tausendfach vor. Wenn man das liest, wirkt es sperrig. Das ändert sich aber, wenn man den Text vorgelesen bekommt.

Apropos Vorlesen: Lachen wir eigentlich an denselben Stellen wie die alten Isländer?

Schwer zu sagen, weil wir ja nicht genau wissen, was die Leute im 13. Jahrhundert lustig fanden. Es gibt aber schon eine gewisse Art von Humor, die die Saga-Autoren intendierten und den wir heute noch wahrnehmen.

Zum Beispiel?

Es gibt viele lakonische Repliken - gerade an Stellen, wo es eigentlich sehr dramatisch zugeht. Und dann gibt es Passagen, in denen Arme und Beine abgeschlagen, wo Menschen regelrecht fragmentiert werden. Die kann man als sehr grausam empfinden. Man kann es aber - im Sinne einer Körpergroteske - auch sehr komisch finden. Das war für die von Gewalt gebeutelte isländische Gesellschaft des 13. Jahrhunderts wohl ein wichtiges Ventil.

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