: Klassenkämpfer im Rathaus?
Große Abwahlkoalition In Weißensee: ist ein PDS-Stadtrat untragbar, der glaubt, das Kapital herrsche in der Bundesrepublik? / Wahlkampftheater, meint der Angeschuldigte ■ Von Barbara Bollwahn
Schwere Geschütze wurden gestern abend zur Bezirksverordnetenversammlung in Weißensee gegen den Stadtrat für Gesundheit und Umweltschutz, Olaf Albrecht (PDS), aufgefahren: fehlende Loyalität gegenüber der Bundesrepublik (CDU-Fraktion), Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (SPD-Fraktion) und Benutzung seines Amtes, um den Bürgern zu schaden (Fraktion der Republikaner).
Anlaß für die Abwahlanträge, über die nach Redaktionsschluß abgestimmt wurde, ist ein Aufsatz Albrechts, der im Juli im Parteiblatt der PDS Weißensee transparent erschienen ist. Darin kommt der einzige PDS-Stadtrat in Weißensee nach 20monatiger Amtszeit zu der Schlußfolgerung, daß seine „Tagesaufgabe“ nur darin bestehen könne, „dazu beizutragen, das jetzige System so schnell wie möglich bis an seine Entwicklungsgrenzen zu treiben“ und „immer wieder deutlich aufzuzeigen, daß Gesetze heute nicht den Interessen der Mehrheit der Menschen dienen, sondern der Schaffung bestmöglicher Verwertungsbedingungen des Kapitals“.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die keinen eigenen Abwahlantrag gestellt hat, unterstützt die anderen Fraktionen. Albrecht, der in seinem Aufsatz das Fehlen von „Rahmenbedingungen für alternative Politik im Bezirksamt“ beklagt, sei selbst ein „typischer Beamter“, sagte ihr Geschäftsführer Ingo Nastke gestern zur taz. Die Fraktion wollte sich gestern vor der BVV-Versammlung noch einmal zusammensetzen, so Nastke weiter, da der Abwahlantrag in der Fraktion nicht ganz unumstritten sei. Nastke betonte, daß es nicht um einen „Schlag gegen die PDS“, sondern um die Person Albrecht ginge: „Uns stößt seine Arbeit als Bezirksstadtrat auf.“ Die Stadträtin für Soziales, Claudia Hämmerling (Bündnis 90/Die Grünen), sagte zur taz, daß man niemanden dafür bestrafen dürfe, nur weil er seine Meinung sage. „In der DDR wäre er dafür eingesperrt worden.“
Olaf Albrecht, PDS—Bundestagskandidat im Wahlkreis Wilmersdorf/Charlottenburg, ist überzeugt, daß der Aufsatz drei Monate nach dessen Erscheinen „wahlkampfmäßig gebraucht“ wird, um Weißensee zu einem „PDS-freien Bezirk“ zu machen. Den Aufsatz habe er ursprünglich im April als „Auseinandersetzung auf politischer Ebene“, also innerhalb der PDS, verfaßt. Er könne nicht verstehen, wie sich die Ansprüche an die Meinungsfreiheit nach der Wende verkehrt hätten.
Die PDS-Fraktion wundert sich zudem, daß ein „angeblich verfassungsfeindlicher Bezirksstadtrat“ seine Geschäfte weitere drei Monate betreiben durfte.
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