Klagewelle: Hartz IV macht Richtern Arbeit
Immer mehr Hartz-IV-Empfänger klagen gegen Entscheidungen des Jobcenters. Beim Sozialgericht ist inzwischen der 50.000. Fall eingegangen. Fast jeder Zweite hat mit seiner Beschwerde Erfolg.
Die Probleme mit Hartz IV sind in ein helles, frühlingshaftes Grün gehüllt. Rentenfälle leuchten orange, die der Krankenkassen rot. Die farbigen Mappen stapeln sich auf den Schreibtischen der Mitarbeiter des Sozialgerichts. Akte liegt auf Akte, die Papiere türmen sich teils meterhoch auf. Auch die Fächer an den Wänden sind voll mit Unterlagen. Die Bearbeiter kommen nicht hinterher. Denn besonders die grünen Akten werden in letzter Zeit mehr und mehr.
Dreieinhalb Jahre nach der Einführung von Hartz IV wehren sich Betroffene immer häufiger gegen die Entscheidungen der Jobcenter. Michael Kanert, Sprecher des größten deutschen Sozialgerichts in Berlin, hielt am Freitag ein Papier in die Luft. "Das ist unser 50.000. Fall", sagte er. In diesem Jahr rechne das Gericht mit insgesamt mehr als 21.400 neuen Verfahren zu Hartz IV. Vor der Arbeitsmarktreform, im Jahr 2004, gab es zur Sozial- und Arbeitslosenhilfe lediglich 6.500 Klagen. Kanert ist inzwischen überzeugt: "Es handelt sich nicht um Anfangsschwierigkeiten, die Probleme sind systemimmanent."
Viele Empfänger von Hartz IV klagen offenbar zu Recht: Fast jeder Zweite hat nach Angaben des Sprechers mit seiner Beschwerde Erfolg. In anderen Rechtsgebieten liege die Quote bei einem Drittel.
Häufig gehe es bei den Verhandlungen um Details, zum Beispiel bei der Anrechnung von Einkommen auf das Arbeitslosengeld II. Die Bestimmungen dazu seien so kompliziert wie das Steuerrecht, sagte Kanert. "Dabei war doch die Idee von Hartz IV, alles schneller und einfacher zu machen." Oft stritten sich Behörden und Betroffene auch über die Wohnkosten.
Kanert sparte nicht mit Kritik an den Jobcentern. Ein Teil der 5.500 Mitarbeiter in Berlin kenne sich in der komplizierten Materie nicht gut genug aus. "Wir stoßen immer wieder auf Formfehler." Jeder fünfte Mitarbeiter der Jobcenter habe nur einen Zeitvertrag. Dadurch gehe viel Erfahrungswissen verloren. "Auch das Computerprogramm der Behörde funktioniert bis heute nicht richtig."
Über 16.000 unbehandelte Akten haben sich beim Sozialgericht inzwischen angehäuft. "Die Richter müssten sich ein Jahr lang einschließen, um das abzuarbeiten", sagte Kanert. Wenn es um existenzielle Fragen gehe, würden diese in wenigen Wochen geklärt. Die Wartezeit für einen normalen Fall betrage inzwischen aber über ein Jahr, so Kanert. Bei komplizierten Verfahren könnte es auch vier Jahre dauern, bis ein Urteil fällt.
Derzeit arbeiten 85 Richter im Haus in der Invalidenstraße. Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) will nun 40 weitere Richterstellen beantragen. Sie fordert vom Bund zudem Korrekturen an den Hartz-Gesetzen. "Die Regelungen haben zahlreiche Rechtsbegriffe unbestimmt gelassen, sodass die Sozialgerichte diese Lücke füllen müssen."
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