Kitsch: Süßer die Glocken nie klingen
Warum das Bedürfnis nach Nippes nicht nur an Weihnachten Hochkonjunktur hat. Eine Betrachtung.
In den "Spenerstuben" in Moabit geht es mächtig weihnachtlich zu: Lebensgroße Plüschweihnachtsmänner schmücken den Kneipeneingang, drinnen blinken Sterne, Engel und rote Stiefelchen um die Wette mit den Spielautomaten. Im "Ben Sherman"-Shop am Hackeschen Markt hängen auch Sterne im Fenster, werden aber ironisch abgefedert durch ein Schild im Retro-Design: "Never a silent night" steht über Herrenschuhen und Wollmänteln. Drinnen schmachten die Verkäufer sich gegenseitig "Silent Night" ins Ohr - um dann peinlich berührt aufzulachen: "Nee, wie kitschig!"
Weihnachtszeit ist Kitschzeit. In der dunklen, kalten Jahreszeit rücken die Menschen zusammen und wärmen sich am Süßen, Leichten und Gefälligen. Sich über die vorgetäuschte Glitzerromantik der Kaufhäuser und die zipfelbemützten Massen auf dem Alexanderplatz lustig zu machen ist leicht. Doch die Weihnachtszeit macht nur besonders augenfällig, was das ganze Jahr präsent ist. Kitsch ist überall, und wir alle sind Kitsch. Der Kitsch hat sich in der Stadt breitgemacht, quer durch alle Stadtteile und Gesellschaftsschichten. In Szenekneipen röhrt der Hirsch neben Flohmarktmöbeln, Dekoläden verkaufen selbstbewusst schlechten Geschmack zum Mitnehmen, gebauter Kitsch wie die Rosenhöfe am Hackeschen Markt überziehen die Silhouette der Stadt mit Zuckerguss. Souvenirkitsch, Ostalgiekitsch und Retrokitsch tun das Übrige.
Berlin ist, zumindest etymologisch, die Geburtsstadt des Kitschs: 1881 ist der Begriff erstmals aus dem großstädtischen Künstlermilieu belegt - als vernichtendes Urteil gegenüber der Konkurrenz. Später grenzte sich das Bürgertum damit geschmacklich vom Proletariat ab, das sich billige "Schmücke dein Heim"-Kunst aus Massenproduktion in die Wohnstuben hängte. Eine Ausstellung im Kreuzberger Werkbundarchiv zeigt gerade Kitsch aus 100 Jahren. Dass die damals der "Materialprotzerei", "Dekorbrutalität" und "Schmuckverschwendung" bezichtigten Dinge nicht aussterben, zeigen eindrucksvoll die Berge von Nippes, die Ausstellungsbesucher dort abgaben.
Doch woher kommt eigentlich dieses Bedürfnis nach funktionsloser Dekoration, das sich vor allem in den eigenen vier Wänden entfaltet? Wenn man die vorweihnachtlichen Lichtorgien in den Fenstern schmuckloser Mietskasernen betrachtet, könnte man meinen, dass das Kuschelbedürfnis zunimmt, je trister und beengter die Wohnverhältnisse sind. Kitsch kann eine Flucht aus der Realität sein, er bedient die Sehnsucht nach echtem Erleben, Freiheit und gesellschaftlicher Anerkennung. Dass es sich dabei nur um eine Ersatzbefriedigung handelt, tut der Sache keinen Abbruch. Eine Fototapete öffnet selbst in der Knastzelle den Blick. Und ein mit falschen Diamanten beklebtes Billighandy gibt seiner Trägerin zumindest das vage Gefühl, Teil einer Geschmackselite zu sein - obwohl sie keinen Schulabschluss und damit auch kaum Chancen auf echten gesellschaftlichen Status hat.
Kitsch erzeugt Illusionen besonders bei denen, die in der Realität wenig zu lachen haben. Das kann man anprangern, schließlich wäre es besser, die tatsächlichen Lebensbedingungen zu ändern. Aber Sehnsucht ist legitim - darum sollte man sich hüten, über Kitsch die Nase zu rümpfen.
Außerdem ist das Bedürfnis nach Gemütlichkeit universell, niemand ist immun gegen Kitsch. Wie sonst wäre es erklärbar, dass in den Fensterfronten nagelneuer, schicker Townhouses bereits Spitzenvorhänge und Trockenblumengestecke gesichtet wurden? Nippes ist auch eine Rache an der Moderne, die Dekor verachtet und asketische Geschmackssicherheit predigt. Als augenzwinkernder Tabubruch lässt sich auch die Lust an "Bad Taste"-Objekten und "Grand Prix"-Fernsehabenden in mancher Wohngemeinschaft erklären.
Wie auch immer man zu ihm steht - Kitsch ist typisch für unsere Zeit, denn er kann etwas, was wir immer weniger können: die Welt ein bisschen einfacher machen. Dass in Mitte, Kreuzberg und Prenzlauer Berg so viele heimeligen Lokale mit zierlichen Teekannen und selbst gebackenen Törtchen eröffnen, sagt viel über unser Bedürfnis nach Aufgehobenheit in einer zunehmend komplexen Welt. Zwischen Plüsch und Gesticktem sollen Widersprüche einfach verschwinden, zumindest für die Dauer eines Getränks. Neu daran ist, dass es nicht nur die Alten sind, die sich am Teeservice festklammern, weil ihnen vom Tempo des Weltgeschehens der Kopf schwirrt. Auch junge Leute scheinen überfordert und ängstlich - angesichts des schwarz-gelben Politikkurses dürfte uns in den nächsten Jahren eine regelrechte Nippeswelle bevorstehen.
Die taz hat sich für die harten Zeiten gerüstet und sagt Ja zum Kitsch. Für die Weihnachtsausgabe haben wir uns dem ornamentalen Zauber arabischer Möbelläden genähert und mit der Chefin des Werkbundarchivs über Geschmack gesprochen. Wir besuchten einen Künstler, der Nippes in Kunst verwandelt, und ließen uns von Bewohnern eines Obdachlosenheims ihre Wohnideen erklären.
Süße Weihnachten!
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