Kirche am Heiligabend: „Ängsten eine Stimme geben“
Für die evangelische Theologin Ellen Ueberschär ist die Kirche am Heiligabend ein Ort zum Nachdenken. Soziale Probleme sollten zur Sprache kommen.
taz: Frau Ueberschär, am Heiligen Abend sind die Kirchen voller Leute, die sonst nie in den Gottesdienst gehen. Können Sie sich denn auch über solche Gäste freuen?
Ellen Ueberschär: Ich betrachte die nicht als Gäste. Wer einmal im Jahr in die Kirche geht, ist ja ein regelmäßiger Kirchgänger. Predigten, die anfangen mit: „Jetzt hab ich euch hier, also sag ich euch mal die Meinung“, finde ich fehl am Platze. Ich möchte lieber herausfinden, warum die Leute kommen.
Und?
Sie haben eine Sehnsucht nach Ganzheit, nach Heil, nach Erlösung oder einfach nach Glück, und ich meine: Genau das ist es doch, worum es im Evangelium geht. Manche kommen sicher auch, um eine Atmosphäre zu finden, die sie alleine zu Hause nicht herstellen können.
Sorgen Sie sich nicht, dass die christliche Botschaft selbst dabei in den Hintergrund rückt?
Die Frage ist, ob nicht das die christliche Botschaft ist: Die Welt ist ein großes Ganzes, in ihr gibt es einen Sinn. An Weihnachten ist ja jeder im Stress. In der Kirche kann ich sagen: Hier hab ich mal eine Stunde Ruhe, hier kann ich innehalten, zu Gott kommen.
ELLEN UEBERSCHÄR
Geboren: 1967 in Berlin, Hauptstadt der DDR
Beruf: seit Juli 2006 Generalsekretärin des Evangelischen Kirchentages in Fulda
Stationen: Studienleiterin für Theologie, Ethik und Recht an der Evangelischen Akademie Loccum
Studium: Nach der Schule wollte sie Medizin studieren, doch der Staat verweigerte ihr zunächst den Zugang zur Universität. Nach einer Ausbildung zur Facharbeiterin für Datenverarbeitung von 1988 an Studium der Theologie in Berlin und Heidelberg
Promotion: 2002 in Marburg über evangelische Jugendarbeit in der DDR
Familie: verheiratet, eine Tochter.
Welche gesellschaftliche Bedeutung hat der Gottesdienst als Ritual heute noch?
Die erkennt man daran, dass selbst denen, die nicht hingehen, bewusst ist, dass sie nicht hingehen. Sie reden darüber, sie sagen: „Ich gehe nicht in die Kirche.“ Aber sie akzeptieren, dass es ein Teil des Weihnachtsrituals ist. Gerade in einer Welt mit unsicheren Arbeitszeiten, wo viele nicht wissen, was sie nächstes Jahr für einen Job machen werden, ist das ein fester Angelpunkt: Weihnachten hat man zwei Tage frei. Das ist ein Anker in einer Zeit, die so fließend geworden ist.
Ehrlich gesagt: Wird die Kirche auf diese Weise nicht eher zur weihnachtlichen Fototapete?
Ich mag das nicht so sehen, so eine Sicht hat immer etwas von Verachtung. Es hat etwas von: „Ihr lebt ein falsches Leben und ich sage euch, wie es richtig ist.“ Das ist aber nicht unser Job. Jesus ist genau zu jenen Leuten gegangen, von denen andere gesagt haben, dass sie ein falsches Leben führen. Menschen, die sogar verabscheut wurden. Der Zöllner, das wäre heute ein Banker.
Der Zöllner wurde aber nach der Begegnung mit Jesus ein ernsthaft frommer Mensch.
Es ist leicht zu sagen: „Ihr seid nicht ernsthaft.“ Aber wir machen in der Kirche keine Gewissensforschung. Wir sollten dem Heiligen Geist nicht im Wege stehen. Der Weihnachtsgottesdienst ist nicht der Ort, um den Leuten heimzuleuchten.
Volle Kirchen an Weihnachten – trotzdem verliert die Kirche Jahr für Jahr viele Mitglieder.
Ich glaube, dass wir auf Zeiten der Unsicherheit zugehen, und dass die Suche nach den alten Gewissheiten eher zunimmt, aber ob deswegen mehr Leute in die Kirche gehen, das ist eine andere Frage. Es kommt auch darauf an, wie die Kirche darauf reagieren wird, ob sie eine spirituelle Ausstrahlungskraft bewahren kann.
Und eine politische?
Auch das. In den Achtzigerjahren zum Beispiel wurde in Berliner Kirchen darüber gesprochen, dass man nicht so viel heizen und Auto fahren soll. Religion wurde als ethische Verpflichtung verstanden. So kam es, dass zeitweise sehr praktische Dinge im Vordergrund standen: Was heißt es, die Schöpfung zu bewahren?
Ja, was?
Eben: weniger Heizen und Autofahren. Heute würde ich sagen – ein bewusster Lebensstil.
Wollten das die Leute hören?
Nun, sagen wir so: Die Menschen werden eher von dem in die Kirche gezogen, was den Kern der Religiosität ausmacht – der Begegnung mit Gott.
Der Bibeltext ist an Weihnachten ja jedes Jahr gleich. Wie erzählt er sich aktuell? Muss er nicht neu „erfunden“ werden?
Neu, eine Neuerfindung braucht es nicht. Und wenn ich über einen bestimmten Text predige, ist die wichtigste Frage: Was bedeutet das heute für uns? Voriges Jahr habe ich einen Adventsgottesdienst in Karlsruhe gehalten, sprach über eine Stelle im Korintherbrief, in der es darum geht, dass wir nicht „Ja Ja“ oder „Jein“ sagen sollen. In Jesus Christus sagen wir klar „Ja“ zur Welt.
Und wie legten Sie diese Passage aus?
Mir ging es um die Frage, wozu wir in unserem Leben eigentlich Ja sagen. Damals hatte ein Elektrokaufhaus mit dem „Weihnachten wird unter dem Baum entschieden“ Reklame gemacht.
Der Sinn von Weihnachten wäre demnach …
Wir sollen uns teure Geschenke schenken, die in diesem Warenhaus gekauft wurden. Und dann komme ich und sage, die Bibel im Rücken: Nein! Genau darum geht es nicht! Wo wird über Weihnachten entschieden? Und wo über unser Leben? Im Kaufhaus etwa?
Die Kritik am Konsumrausch leuchtete Ihnen ein?
Absolut. Es gibt ja fast keine Phasen mehr, in denen man ernsthaft etwas anderes tut als konsumieren. Fast jede Handlung hat mit Konsum zu tun, und das führt dazu, dass die Leute sich über die Wahrheit in ihrem Leben gar nicht mehr im Klaren sind. Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes gar nicht mehr zur Besinnung kommen.
Halten Sie dieses Jahr einen Weihnachtsgottesdienst?
Nein. Aber sonst würde ich sicher darüber reden: Was hält Europa zusammen?
Und noch?
Sicher würde ich darauf eingehen, welche Ängste Menschen haben. Das nächste Jahr wird nicht so toll, die Krise rückt nun auch hierzulande den Menschen auf den Leib. Diese Ängste aufnehmen, ihnen eine Stimme geben – ich fände, dass das in diesem Jahr an Weihnachten wichtig wäre.
Aber an Weihnachten geht es für die meisten Menschen doch um die heile Familie, die heile Welt. Stehen irdisch-harte Themen nicht im Widerspruch dazu?
Nein, ich denke eher, dass es an Weihnachten um die Zerbrechlichkeit von Familie geht. Das ist die Geschichte, die in der Bibel erzählt wird. Josef nimmt diese Frau auf, Maria erwartet ein Kind, von wer weiß wem. Dann müssen sie sich schon auf den Weg machen. Das ist alles andere als eine heile Situation. Sie zeigt Bedrohlichkeit, und eine Nähe zu dem, was gar nicht mehr Teil unseres Lebens ist: Tiere, Hirten …
… haben Sie eine Idee, wo Jesus heutzutage geboren würde?
Ich denke, eher unter Menschen, die einen sozialen Beruf haben, vielleicht in einem Altersheim. Oder bei unterbezahlten und ausgebeuteten Leuten, die Hartz IV beziehen und trotzdem hart arbeiten müssen. Da würde Jesus heute zur Welt kommen.
Weshalb aber sind diese Vorstellungen so eng mit Weihnachten verknüpft?
Das steht im Zusammenhang mit einer Bürgerlichkeit, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Doch das ist nicht der Kontext der Bibel.
Sondern?
Die antike Welt war zur Zeit der Geburt Jesu einfach anders. Das Interessante ist ja, dass die Evangelien in der Bibel eine der wenigen Quellen darüber sind, wie arme Leute gelebt und was sie gedacht haben. Die Bibel ermöglicht uns einen Blick in diese Situation, und das muss man sich klar machen: Diese Geschichte spielt nicht in einer bürgerlichen Welt.
Wie feiern Sie Weihnachten?
In meiner Familien so, dass wir zuerst den Baum schmücken, wir hängen auch Schilder mit Namen daran. Jeder legt seine Geschenke unter das jeweilige Namensschild. Dann gehen wir in die Kirche, essen, danach gibt es die Bescherung. Bei uns werden auch Kleinigkeiten eingewickelt.
Mit welchem Sinn?
Es geht mehr um das Auspacken als um die Dinge selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW