Kinostart von „Sag nicht, wer du bist!“: Die wahren Dinge strahlen eisblau
Als Fremder reist Tom zur Beerdigung des eigenen Mannes: Xavier Dolans Film „Sag nicht, wer du bist!“ ist ein Spiel mit Latenz und Eruption.
Ein altes Genregesetz besagt: Städter, die aufs Land fahren, leben gefährlich. Am drastischsten malte Tobe Hooper in „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974) diese Regel aus; in dem Film gerät eine Gruppe argloser Jugendlicher in die Fänge von Männern, die Kettensägen schwingen und Menschenfleisch essen, und einer von ihnen trägt eine Ledermaske, die ihm das Aussehen einer lebenden Leiche verleiht.
Verglichen damit hat Tom (Xavier Dolan) Glück: Der junge Mann aus Montreal stößt bei seiner Reise in die Provinz Québec nur auf die verschlossene Farmerin Agathe (Lise Roy) und deren Sohn Francis (Pierre-Yves Cardinal). Horror liegt trotzdem in der Begegnung, denn Francis, ein Schrank von einem Mann, hat weder seine Frustrationen noch seine Fäuste unter Kontrolle.
Und seit Alfred Hitchcock „Psycho“ drehte, weiß man, dass niemals sicher ist, wer unter der Dusche steht und das Prasseln des warmen Wassers genießt. Schließlich ist da noch ein junger Mann im Nachbarort, dessen Gesicht von einer zentimeterbreiten Narbe durchquert wird, als wäre er ein Bruder von Joker.
Tom, die zentrale Figur in Xavier Dolans Spielfilm „Sag nicht, wer du bist!“ (im Original etwas schlichter: „Tom à la ferme“), fährt also aufs Land, dorthin, wo die Leute breites Québécois sprechen und wo die Felder sich unter der fliegenden Kamera ducken. Tom hat einen traurigen Grund für seine Reise. Sein Lebensgefährte, Guillaume, ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seiner Mutter Agathe hat Guillaume nie gesagt, dass er mit einem Mann zusammen ist. Die kanadischen Hillbillys mögen zwar keine Kettensägen haben, homophob aber sind sie bis ins Knochenmark. Tom reist als Fremder zur Beerdigung seines eigenen Mannes.
„Sag nicht, wer du bist!". Regie: Xavier Dolan. Mit Xavier Dolan, Lise Roy u. a. Kanada 2013, 105 Min.
Loblied auf die Achselhöhlen
Gleich in der ersten Nacht auf dem Hof wird er von Francis aus dem Schlaf gerissen. Der junge Bauer ahnt, wer der junge Städter ist, und droht: Kein Wort zur Mutter. Und Tom fügt sich, indem er sich als Kollege und Freund des Toten ausgibt. Später, in einer hinreißenden Szene am Küchentisch, scheißt Tom auf den Befehl, er erfindet eine Frau, mit der Guillaume zusammen gewesen sei. Eine Deckerzählung, die es ihm erlaubt, die Achselhöhlen und den Schwanz seines Geliebten zu besingen, ohne dass Francis und Agathe ernsthaft etwas einwenden könnten. Außer, kichernd: „Diese Hündin!“
Jedes Mal, wenn Francis gewalttätig wird, ändert Regisseur Dolan die Bildratio: Man sieht dann ein Rechteck in Form einer Schießscharte und in diesem extrem schmalen, lang gezogenen Bildraum die Köpfe und Körperteile von Tom und Francis aus nächster Nähe. Je länger Tom auf dem Hof bleibt, umso mehr sexuelle Spannung schleicht sich in diese ungleichen Ringkämpfe ein. „Du riechst wie dein Bruder“, sagt Tom einmal zu Francis.
Gekonnt inszeniert Dolan das Wechselspiel von Latenz und Eruption, eine brutalere Gewalttat als Francis’ Schläge bleibt immer im Bereich des Möglichen, das Umschlagen von Wut und Ablehnung in einen Fick genauso. Warum Tom nicht auf dem Absatz kehrt macht, direkt nach der Beerdigung, ist mit Stockholm-Syndrom nur unzureichend beschrieben, es bleibt ein Geheimnis des Regisseurs.
Aber auch Francis, das Arschloch, wird irgendwann weich. Beim Tango in der Scheune – Toms Unterschenkel wirbeln gekonnt um die von Francis – sagt er: „Ich hab’s so satt, dem Mais beim Wachsen zuzusehen.“
Messerscharfe Maisblätter
Zur Szene in der Dusche gesellen sich weitere überdeutliche Verweise auf Hitchcock, zum Beispiel eine Verfolgungsjagd durch ein Maisfeld. Toms Verzweiflung zwischen den Stauden erinnert an Cary Grants Panik in „North by Northwest“ (1959). Dazu kommt der Soundtrack des Filmkomponisten Gabriel Yared. Die Klänge der Streichinstrumente sind so messerscharf wie die Ränder der Maisblätter im Oktober. Töne wie Klingen; sie evozieren Bernard Herrmanns berühmte Kompositionen für Hitchcocks Filme.
Xavier Dolan ist 25 Jahre alt, Frankokanadier und Regisseur von mittlerweile fünf abendfüllenden Spielfilmen. Seine jüngste Arbeit, „Mommy“, lief im Mai im Wettbewerb von Cannes und erhielt ex aequo mit Godards „Adieu au langage“ den Jurypreis. In Interviews sagt Dolan, dass er „North by Northwest“ nie gesehen habe. Seine Filmbildung sei lückenhaft, er komme einfach nicht dazu, Filme zu schauen, weil er ja selbst ständig drehe oder mit der Postproduktion beschäftigt sei (für „Sag nicht, wer du bist!“ hat er zum Beispiel nach dem Dreh selbst den Schnitt besorgt).
Ob man ihm das glaubt oder nicht, spielt keine Rolle; wichtig ist, dass aus dem bewussten oder unbewussten Zitat etwas Beachtliches hervorgeht. Dolan könnte die Geschichte von Tom (der übrigens ein Theaterstück von Michel Marc Bouchard zugrunde liegt) zurückhaltender erzählen, realistischer, er könnte sie kleiner fassen, stattdessen reichert er sie mit Film-Noir-, Horror- und Thriller-Motiven vergangener Kinotage an, er stellt sie mit großem Willen zur Flamboyanz in einen Fiktionsraum voller latenter Schrecken.
Die Mühlen des Herzens
Warum sich bescheiden, wenn Exaltiertheit so viel mehr Eindruck schindet? Warum auf das Drama einer Trauer, die sich selbst verleugnen muss, nicht mit konsequentem Exzess antworten? „Les vraies affaires“ steht einmal in Neonleuchtschrift über einem Kneipentresen. Die wahren Dinge, sie strahlen in eisblauer Künstlichkeit.
Und die tiefen Gefühle von Verlust? Sie vermitteln sich am besten, wenn sie in einem a cappella vorgetragenen Chanson widerhallen. Tom singt leise mit, während die Stimme aus den Lautsprechern „Les moulins de mon coeur“ schmettert. Der Name des Geliebten lässt die Mühlen des Herzens wirbeln, doch es wird Herbst, der Himmel ist nun von einem blasseren Blau, und die Spuren der gemeinsamen Schritte im Sand verwischen. Und draußen, vor den Autoscheiben, ziehen die abgeernteten Felder vorüber, die Erde dunkelbraun und furchig.
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