Kino-Film "Nichts als Gespenster": Beziehungsfremdheit im Mietwagen

Martin Gypkens erzählt in dem nach Judith Hermann gedrehten Film "Nichts als Gespenster" ein deutsches Befindlichkeitsepos aus Totalen und Großaufnahmen.

Die Figuren bleiben blass: Film "Nichts als Gespenster" Bild: dpa

Oft eine hübsche Frage: ob und wenn ja wie ein Film so etwas wie ein kollektives Lebensgefühl transportieren kann. Bei "Nichts als Gespenster", Martin Gypkens Gefühlsreigen nach Erzählungen von Judith Hermann, fällt sie einem immerhin mal wieder ein. Junge deutsche Menschen exportieren darin ihre Beziehungs- und Befindlichkeitsprobleme in die weite Welt: streiten sich unter der schwülen Tropenhitze Jamaikas, agieren ihre Beziehungsfremdheit im Mietwagen am Grand Canyon aus, verfehlen sich in der Schneelandschaft Islands, lassen sich von Eindrücken irritieren in Venedig und begehen einen Liebesverrat in der Provinz Brandenburgs.

Gefühlsprobleme in den Zeiten der Billigfliegerei. Man kann ja mal gucken, ob man woanders nicht besser mit sich klarkommt - was dann aber natürlich auch nicht funktioniert, weil man sich selbst bekanntlich immer mitnimmt. Der Film besteht aus fünf ineinander verschachtelten Episoden Judith Hermanns, und seine zentrale Behauptung ist, dass sie sich durch eine gemeinsame Grundstimmung in einen Zusammenhang bringen lassen. Ist das schon ein überindividuelles Lebensgefühl? Es lohnt sich, einen kleinen Umweg zu machen, um zu eruieren, was das für eine Stimmung ist.

Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in "Außer Atem", einem Klassiker des Lebensgefühlsfilms: Noch heute kriegt man eine Ahnung davon, welche Aufbruchstimmung diese Kleine-Gauner-Geschichte in die Welt sendete. Geraffte Schnitte, Sprüche, Blicke und ein sinnloser Tod - der Film formulierte ein Versprechen auf verschärftes Leben. Damit konnte man sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren gut trösten, neben all den Infragestellungen von Beziehungsmustern und der Suche nach neuen Weiblichkeits- und Männlichkeitsbildern. Noch in den melancholischen Tableaus Wong Kar Weis, in manchem ein Wiedergänger der Nouvelle Vague, ist dieses Gefühl des verschärften Lebens drin: So scheiße das zwischen Männern und Frauen auch oft läuft, wenigstens können sie aneinander ihre ultimativen Grenzen erfahren - und dabei noch ziemlich cool aussehen.

Inzwischen sind in den einschlägigen Trendbezirken unserer Großstädte die Clubs und Bars, in denen sich Männer und Frauen treffen, aber betont warm eingerichtet. Sitzecken mit Sesseln, ornamentale Rankenmuster an den Tapeten. Man will nicht aufbrechen, sondern immer schon angekommen sein. Verschärft ist schließlich schon das Leben auf dem Arbeitsmarkt, da kann man im Emotionalen eher etwas Schirmendes gebrauchen. Auch sonst hat sich manches geändert. Wer heute so wie damals Belmondo mit einer Fluppe im Mundwinkel eine Frau anquatscht, kann auf das geballte Unverständnis selbstverständlicher Nichtraucherinnen stoßen. Und auch mit einer pathetischen Ganz-oder-gar-nicht-Semantik in Gefühlsdingen ist das inzwischen so eine Sache. Ein jeder weiß doch längst, dass eine neue Beziehung nicht alle Probleme löst. Und dass man an einer Trennung nicht stirbt (selbst wenn es sich eine Zeit lang so anfühlen mag).

Selbst wenn diese Motive direkt in Martin Gypkens Film gar nicht vorkommen, sie bilden unverkennbar den Hintergrund dieser Figuren. Sie sind nach einer Trennung eben nicht gestorben, sondern suchen nach Neuanfang und Ablenkung, so wie Marion (Fritzi Haberlandt) auf Bildungsurlaub in Venedig oder Irene (Ina Weisse) auf einem Vögelurlaub mit ihrem besten Freund nach Island. Nach Aufbruch sieht das, was zwischen Ellen (Maria Simon) und Felix (August Diehl) auf ihrer Fahrt durch den Westen der USA geschieht, nicht aus. Die Figuren sehnen sich eher so wie Christine (Brigitte Hobmeier) einen Hurrikan als großen Gefühlsreiniger herbei; oder sie wissen, dass sie gerade emotional Mist bauen, so wie Caro (Karina Plachetka), und bauen ihn trotzdem.

Ein talentiertes Ensemble junger Schauspieler spielt ein heutiges Ensemble immer irgendwie halbgarer, sich selbst unsicherer Gefühle. Ob sie das gut machen, ist gar nicht die Frage, die man sich dabei stellt; sie tun es. Und Regisseur Martin Gypkens hat diese Judith-Hermann-Welt aus kleinen Seitenblicken und unausgesprochenen Sätzen auch einleuchtend auf die Leinwand übertragen. Alles an diesem Film sagt, dass hier jemand ernsthaft auf der Suche nach Bildern und nach einer Semantik ist, um aktuelle Beziehungslagen zu artikulieren.

Und doch hakt bei dem Film immer wieder etwas. Zum Teil ist es bestimmt so etwas wie Mittelklasse-Selbsthass: Auch wenn man sich ertappt fühlt, eine Gefühlslage wie auf der Leinwand auch im eigenen Leben zu bearbeiten - sich so tapsig wie die Figuren dieses Films anstellen, möchte man sich eben einfach nicht (selbst wenn man es tut). Der schöne Fluss der Identifikation ist also gestört. Vielmehr ergibt sich sogar so etwas wie Abwehr: schlimm genug, dass viele heutige Versuche, mit Liebe umzugehen, tatsächlich so ungelenk aussehen. Man möchte aber nicht, dass sich daraus auch noch ein ganzes Lebensgefühl zusammensetzt.

Man kommt an die Figuren als Zuschauer gar nicht richtig heran. Das liegt auch an der ästhetischen Umsetzung des Films. Martin Gypkens zeigt sein Personal erstaunlich häufig in einer Totalen - verloren in beeindruckenden Landschaft des Monument Valley oder einsam vor isländischen Geysiren. Daneben zeigt er die Figuren sehr häufig in Großaufnahmen - man sieht das kleine Zucken in den Augenwinkeln, den Moment, in dem die Augen auf Ferneinstellung in die Weite gehen. Martin Gypkens ist auf das Zeigen von Befindlichkeiten aus, auf Momente des selbstunsicheren Gefühls. Seine Figuren bleiben dabei blass. Man ist immer zu weit weg oder zu nah dran. Gerade damit macht der Film aber etwas, was sich zwar nicht als allgemeines Lebensgefühl, aber durchaus als verbreitetes Problem artikulieren lässt.

Zu weit weg oder zu nah dran - im übertragenen Sinne trifft der Film da etwas. Man stößt darauf in Erzählungen um Gefühlsdinge häufiger, und vielleicht ist das wirklich ein Ausdruck unserer Zeit: dieses unverbundene Nebeneinander von vollkommenem Bescheidwissen im Prinzip und im Ganzen (in der Totalen) und einer ebenso vollkommenen, tja: fast schon Blödheit, wenn es um die Anwendung und ums Detail geht (die Großaufnahme). In Ralf Westhoffs Film "Shoppen" sah man etwa Figuren, die noch während eines Speed Datings runterbeten konnten, was man da theoretisch alles durchschaut hat; Stichworte wie Konsum der Romantik, Bindungsangst, Ökonomie der Gefühle, Selbstunsicherheit in einer Gesellschaft des Wahlzwangs hatten sie drauf - und im nächsten Augenblick stürzten sie sich in die Suche nach dem großen privaten Glück, als hätten sie alle Stichworte wieder vergessen. Und in René Hamanns Szeneroman "Schaum für immer" stößt man auf junge Trendsetter, die die Verlaufsformen der Gefühle und die Dramaturgien von Datings aus dem Effeff herunterbeten können - was ihnen aber für ihr Leben überhaupt nichts nützt.

Auf eine bestimmte Weise kann man dieses Nebeneinander von Totalen und Großaufnahme und das Fehlen von vermittelnden mittleren Einstellungen auch in Ulrich Peltzers aktuellem Roman "Teil der Lösung" ausmachen. In der Totalen zeichnet er das Bild einer Gesellschaft, die sich mit den Begriffen Überwachung und Prekarität erfassen lässt, und daneben stellt er in der zweiten Hälfte des Romans die Großaufnahme einer jungen, romantisch aufgeladenen Liebe - mit Wortwechseln wie aus einer Screwball Comedy und wildem Sex auf einem verfallenen Grundstück am Flussufer. Das verfehlte Ganze und das mögliche, wenn auch komplizierte Glück zu zweit stoßen hier direkt gegeneinander. Und so stehen Christian und Nele (so heißen die Liebenden) am Schluss wie verloren in einer Gesellschaftstotalen herum - so wie in Martin Gypkens Film Ellen und Felix verloren (aber in dieser Verlorenheit auch geborgen) in einer Totalen der westamerikanischen Landschaft.

Woher kommt dieses Fehlen mittlerer Einstellungen? Fast könnte man den Verdacht hegen, dass die Beschäftigung mit realen Paarbeziehungen - die von sich aus zur mittleren Einstellung tendieren lassen würde - weitgehend mit einem Verdikt von Uncoolness belegt ist. Es ist irgendwie tougher, härter, durchschauender, wenn man etwa romantische Gefühle insgesamt - beispielsweise durch intensive Lektüre der Soziologin Eva Illouz - als Spezialform kapitalistischer Warenförmigkeit analysieren kann. (Und entlastender ist es auch, weil dann die Probleme mit den Gefühlen von außen, vom Kapitalismus her, kommen und nicht aus dem Binnenraum des Paares heraus entstehen.) Und auf der anderen Seite ist es wahrscheinlich schlicht angesagter und wohl auch einfacher, bei der Inszenierung von Gefühlslagen auf Stimmungen und auf die Artikulation von Lebensgefühl zu setzen, als die Gefühle auch tatsächlich zu analysieren.

Letzteres kann man Martin Gypkens aber nur zum Teil vorwerfen. Immerhin hat er sich mit "Nichts als Gespenster" schon mal auf die Suche gemacht, um Bilder für heutige Beziehungen zu finden. Er hat vielleicht nur noch nicht die richtigen Einstellungen für seine Bilder und die richtige Entfernung zu seinen Figuren gefunden.

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Dirk Knipphals, Jahrgang 1963, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel und Hamburg. Seit 1991 Arbeit als Journalist, seit 1999 Literaturredakteur der taz. Autor des Sachbuchs "Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind" und des Romans "Der Wellenreiter" (beide Rowohlt.Berlin).

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