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Kindesmissbrauch in der FamilieGewalt, die tut, als wäre sie Liebe

Erste Anhörung der Kommission zur Aufarbeitung von familiärem Kindesmissbrauch: Zwei Frauen erzählen ihre Geschichte.

Seit einem Jahr gibt es diese einzigartige Kommission, die Missbrauch in familiärem Kontext aufarbeiten will (Symbolbild) Foto: dpa

Berlin taz | „Du erbärmliche kleine Hure, was willst du, meine Ehe kaputtmachen?“ schreit die Mutter von Sabrina Tophofen, als sie mitbekommt, dass der Vater dem 10-jährigen Kind sexuelle Gewalt antut. „Ich hätte dich nie kriegen sollen, ich wollte dich sowieso nicht, du Fotze.“ Sie schlägt auf das Kind ein. Und das Kind? Schreibt der Mutter hinterher einen verzweifelten Brief, in dem sie ihr erklärt „wi lib isch disch habe“ und dass sie „die aler beste Mama aller Zeiten und auf der weld“ ist.

Das ganze Dilemma, beschrieben von Sabrina Top­hofen, Mutter Sinti, Vater Deutscher, in ihrem Buch „Lebenslänglich“. Jetzt sitzt sie auf der Bühne und weint. Jetzt findet sie Gehör, jetzt versuchen Menschen, ihr Leiden nachzuempfinden. Das ist alles nicht selbstverständlich. Der Vater, oft alkoholisiert, hat gedroht, sie zu töten, wenn sie ihn verrät. Die Mutter: ein Komplettausfall. Das Jugendamt: wird nach Strich und Faden angelogen.

Mit zehn erzählt sie ihrer Oma von den Übergriffen und die schickt sie zur Polizei. Und dann ist Schluss mit der von Gewalt und Lügen zusammengehaltenen Familie: Sabrina kommt in ein Heim. Läuft weg, lebt auf der Straße, schafft es später doch, eine Ausbildung zu machen. Aber in ihrer Heimatstadt Duisburg, wo ihre Verwandten leben, kann sie sich nicht mehr sehen lassen. Sie ist geächtet. Die Verräterin. Die die Familie zerstört hat.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat zu ihrem ersten Hearing geladen und Sabrina Tophofen ist eine, die bereit war, zu berichten. Seit einem Jahr gibt es diese einzigartige Kommission, die Missbrauch in familiärem Kontext aufarbeiten will und Vorschläge macht, wie sexuelle Angriffe in der Familie in Zukunft verringert werden können.

Was tun, damit es aufhört?

Und das Dilemma ist sofort da: Kinder wie Sabrina sind derart von ihren Eltern abhängig, dass sie es oft nicht über sich bringen, anderen von der Gewalt zu erzählen. Tagelang überlegte Sabrina, ob das so sein muss, dass Töchter gegen ihren Willen den Penis ihrer Väter anfassen müssen und ihnen ekliges klebriges Zeug über die Hände läuft. Ob das Liebe ist, wie ihr Vater ihr immer wieder erklärt. Aber eine geheime Liebe, man wisse ja, wie eifersüchtig die Mutter sei. „Was muss ich tun, damit es aufhört?“, überlegt sie. Besonders lieb zum Vater sein?

Die Eltern sind mittlerweile beide tot. Und Sabrina hat angefangen zu reden. Sie arbeitet als Altenpflegerin, hat fünf Kinder und manchmal zu wenig zu essen für alle. Es ist ein Kampf, jeden Tag, sagt sie. Sie habe es geschafft, gratulieren ihr die Leute. Aber da sitzt sie und schluchzt erneut: „Ich habe geschafft zu überleben, das ist das Einzige, was ich geschafft habe.“

Wie hilft der Staat Menschen wie ihr? Es gibt ein Opferentschädigungsgesetz, nach dem kann man einen buchdicken Antrag stellen, davon erzählt Maria Andrea Winter auf dem Podium, ein weiteres Missbrauchsopfer. Das OEG, wie es kurz heißt, ist noch auf Kriegsopfer zugeschnitten, die genau sagen können, was ihnen wo widerfahren ist. Aber mit solchen Informationen kann Winter nicht dienen.

„Ich weiß, es war hell, es war im Auto, mein zweijähriger Bruder musste bei allem zusehen. Er hatte eine rote Jacke an. Aber ich weiß weder Ort noch Datum.“ Glaubwürdigkeitsgutachten werden erstellt. Diese Anmutung, dass einem da wieder nicht geglaubt wird, kann Opfer retraumatisieren. Das Opferentschädigungsgesetz sollte reformiert werden, das war eine Empfehlung des Runden Tisches von 2010. Bis 2016 sollte ein Hilfsfonds die Zeit bis zur Reform überbrücken. Aber bis heute gibt es nicht einmal einen Gesetzentwurf.

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4 Kommentare

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  • Diese Art der Öffentlichkeitsarbeit ist sehr kritisch zu sehen. Es werden Opfer präsentiert, die bereit sind, sich öffentlich zur Schau zu stellen. Das folgt dem Mythos, dass jeden Trauma offen, öffentlich oder zumindest bewußt gemacht werden muss. Den Opfer von sexueller Gewalt nützt das im Nachhinein nicht, oftmals schadet es nur. Auch schützt man so keine 5- oder 15jährigen Jungen oder Mädchen vor sexueller Gewalt in der Familie.

     

    Ob diese Lobbyarbeit für die Opferverbände und andere Gruppen, irgendein Kind vor dieser Art der Gewalt geschützt hat oder einem Opfer tatsächlich damit geholfen wurde, wage ich zu bezweifeln. Es fördert ungewollt jedoch auch "Falsche" Erinnerungen und damit "falsche" Opfer zutage.

     

    Das Opferentschädigungsgesetz bietet einen Rechtsanspruch für Opfer von Straftaten in einem klar definierten Rahmen. Dazu ist es von Natur aus erforderlich einerseits Opfer von Nicht-Opfern zu unterscheiden und andererseits Opfer auf Gesundheitsschäden hin zu untersuchen. Das stellt sowohl die ("echten") Opfer als auch die Beurteiler vor große Herausforderungen.

    • @TazTiz:

      Bei der These von der "Induzierten Erinnerung" sollte man bedenken, was für TäterInnen und Täterkreise auf dem Spiel steht, wenn ihre Verbrechen offenbar werden. Und die starken Sensationen und Emotionen berücksichtigen, die alle sexuellen Aktivitäten begleiten, erst recht, wenn dabei die psychopathologischen Phänomene im Vordergrund stehen. Was auf die meisten erwachsenen Opfer von sexueller Ausbeutung und Gewalt schon stark schädigend wirkt, stellt sich aus der Sicht eines Kindes als verheerend und vernichtend dar http://www.asanger.de/zeitschriftzppm/heftarchiv/2012/heft-3-2012.php#257784a0b50ed3503

  • Wer „Familie“ als Ort an dem Kinder in Wertschätzung und Geborgenheit aufwachsen begreift, kann zu dem Schluss kommen,dass familiäre Missbrauchsopfer gar keine echten Familien haben. Da „Familie“ aber in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert hat, weitgehend idealisiert wird und Geborgenheit und Zugehörigkeit Grundbedürfnisse darstellen, fällt es vielen Betroffenen so schwer, sich auf gesunde Weise vom

    Tätermilieu zu distanzieren. Manche suchen sich einen Ersatz, getreu dem Motto „etwas Besseres finde ich allemal“. Andere arbeiten sich ein Leben lang an ihren missraten Herkunftsfamilie ab. Oft ist das nicht gesund, wirkt sich auch auf die eigenen Angehörigen und Freunde aus. Die Gruppe derer, die daran zerbrechen ist sehr groß.

    Veranstaltungen wie dieses Öffentliche Hearing sind geeignet, den Stellenwert den „Familie“ in unserer Gesellschaft haben zu überdenken. Vielen Kindern tut sie gut, für manche bildet die eigene Familie aber auch eine Falle. Genau dann muss die Gemeinschaft einspringen und das gelingt ihr bisher nur sehr unzureichend, auch wenn insgesamt die Aufgeschlossenheit und der Will zu helfen seit dem "Canisiusday" vor gut sieben Jahren gestiegen ist.

     

    Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer von schwerem sexuellen Missbrauch wurden