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Kinderkrankenhäuser am LimitUnd dann geht es schief

In einem Brandbrief prangern fast alle Berliner Kinderkliniken dramatische Personalengpässe in den Rettungsstellen und Kinderstationen an.

Kranke Kinder werden aus Berlin bis nach Cottbus gefahren Foto: Wolfgang Weinhäupl/Mauritius Image

Absolute Gewissheiten sind selten in der Medizin. Aber vielleicht hätte der Säugling keinen Hirnschaden, wenn er in der Notaufnahme nicht hätte Stunden warten und dann reanimiert werden müssen. „Das ist unerträglich“, sagt der Arzt einer Berliner Kinderklinik, der von dem Fall berichtet.

Mit einem Brandbrief haben sich Ärz­t:in­nen aus neun Kliniken am Mittwoch an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) und die Klinikleitungen gewandt. Nicht ohne Risiko: Wenn bekannt würde, dass er mit der Presse über die Missstände spricht, sagt der Arzt der taz, „dann bin ich meinen Job los“.

Die Missstände, die der Brief auflistet, sind gewichtig – neu sind sie nicht: Bereits im Oktober berichtete die taz von Verlegungen nach Brandenburg, weil es gerade in Herbst und Winter zu wenige belegbare Betten in Berlin gebe. Im November richteten sich Ärz­t:in­nen einer Kinderrettungsstelle der Charité in einem internen Brief an die Klinikleitung und prangerten stundenlange Wartezeiten der kleinen Pa­ti­en­t:in­nen an. Geändert habe sich fast nichts, erzählen Ärz­t:in­nen der Charité.

Für den aktuellen Brandbrief haben sich As­sis­tenz- und Fachärzt:innen, teils auch Ober­ärz­t:in­nen der Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin der Charité, der Vivantes Kliniken Neukölln und Friedrichshain, des St. Joseph Krankenhauses, der DRK Kliniken Westend, des Evengelischen Waldkrankenhauses Spandau, der Helios Kliniken Emil von Behring und Berlin-Buch sowie des Immanuel Klinikums Bernau zusammengeschlossen. „Die Versorgungsengpässe in den Kinderkliniken Berlins, insbesondere in den Rettungsstellen, sind dramatisch“, heißt es darin. Das Personal arbeite am Limit. „Es besteht eine akute Gefährdung für Kinder und Jugendliche im Bundesland.“

Die IT stammt aus den 90ern

Die Ärz­t:in­nen fordern einen festen Personalschlüssel für die Kinderrettungsstellen und versorgenden Stationen, damit kritisch kranke Kinder nicht bis zu sechs Stunden warten und in weit entfernte Kliniken verlegt werden müssten. Bemängelt wird auch die zeitfressende IT, die oft noch aus den 1990ern stamme.

Doch die Ärz­t:in­nen wollen auch das ganz große Rad drehen: Die 2003 eingeführten Fallpauschalen bezögen sich auf Erwachsene. Den Bedürfnissen von Kindern würden sie nicht gerecht. „Stellen Sie sich die Blutabnahme bei einem Kind vor, das nicht kooperiert – das kann bis zu einer Stunde dauern, wenn ich die Rechte des Kindes wahre“, sagt ein Arzt. Außerdem orientiere sich das Vergütungssystem am Bedarf im Sommer – obwohl er im Winter in den Kinderkliniken deutlich höher sei.

Alexander Rosen ist niedergelassener Kinderarzt in Frohnau, bis 2021 arbeitete er noch als Oberarzt und leitete die Kindernotaufnahme an der Charité. „Wir sind in einem tiefen Tal und doch noch nicht ganz unten“, beschreibt er den Personalmangel der Kinderkliniken. Das Vergütungssystem habe den Anreiz zu immer mehr Einsparungen gegeben. Und gerade mit der Kinderheilkunde lasse sich kaum Geld verdienen. „Dass die Kliniken überhaupt noch funktionieren, liegt an der großen Leidenschaft der Mitarbeitenden.“

Immer die Angst, dass man etwas übersieht

Aber die Überlastung mache den Beruf immer unattraktiver – und gefährlicher. Auch Rosen kennt Fälle, in denen sich der Zustand von Kindern etwa aufgrund langer Wartezeiten verschlechterte. „Das ist nicht die Regel“, sagt er, noch immer sei die Versorgung meist qualitativ sehr gut. „Aber es ist vorprogrammiert, dass Dinge schiefgehen.“

Auch als niedergelassener Arzt sitzt Rosen jetzt oft Stunden am Telefon, um einen Krankenhausplatz zu finden. „Wo wir vor zehn Jahren mit einer Liste von Berliner Kinderstationen gearbeitet haben, vielleicht mal noch Eberswalde, da transportieren wir die Kinder heute bis nach Cottbus und Neuruppin.“

Oder die Pa­ti­en­t:in­nen werden wieder nach Hause geschickt, die man sonst stationär aufgenommen hätte. „Immer mit der Angst, dass man etwas übersieht“, berichtet eine Krankenhausärztin. „Alle kennen diese Geschichten, jeder weiß davon“, sagt ein anderer Arzt. Die Pandemie habe die Situation zwar an manchen Stellen verschärft, aber das Problem ist viel älter.

Strukturelle Unterfinanzierung

Auf taz-Anfrage verweisen zwei der im Brandbrief angesprochenen Kliniken trotzdem vor allem auf Personalengpässe durch die Pandemie. Von einem Sprecher der Charité heißt es: Die Kinder-Notaufnahme sei in der Vergangenheit bereits personell verstärkt worden, zur Verbesserung der Situation würden aktuell in diesem Bereich elektive Eingriffe abgesagt. „Überlegungen zur zukünftigen Finanzierung der Notfall- und Kindermedizin werden von uns begrüßt.“

Die Gesundheitsverwaltung antwortet der taz, man teile die im Brief angesprochenen Punkte weitgehend – „insbesondere in Hinblick auf die strukturelle Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendmedizin“. Bereits im September und Oktober habe man Gespräche mit den Leitern der Kinderkliniken geführt, um sich einen Überblick über die akuten Probleme zu verschaffen.

Man werde sich weiter „für eine Erweiterung der Ausbildungskapazitäten stark machen“. Ansonsten verweist die Senatsverwaltung darauf, dass die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag den zeitnahen Entwurf eines Systems zur auskömmlichen Finanzierung der Pädiatrie ankündige und in den kommenden zwei Jahren in die digitale Vernetzung und Arbeitsweise der Krankenhäuser investiere.

Jahrelange Überlastung

Indes ist der Frust der Kran­ken­haus­ärz­t:in­nen enorm. Sie berichten von jahrelanger Überlastung und dem Gefühl, nichts bewegen zu können. Wer wiederholt Überlastungsanzeigen stelle oder sich öffentlich zu Missständen äußere, dem drohten Karrierenachteile und dienstrechtliche Konsequenzen.

„Ich bin so weit, dass ich mich nach Möglichkeiten im niedergelassenen Bereich umschaue“, sagt eine der Ärz­t:in­nen der taz. Der Brief, in dem sich fast alle Kinderkliniken Berlins zusammengeschlossen haben, sei so etwas wie die letzte Hoffnung.

„Damit sich wirklich etwas ändert“, vermutet dagegen Kinderarzt Alexander Rosen, „muss das gesamte Personal der Kinderkliniken den Druck auf die Politik noch erhöhen.“

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