Kinderhospizdienstleiterin über den Tod: „Mitfühlen, aber nicht mitleiden“
Beate Danlowski leitet den Kinderhospizdienst der Caritas. Sie begleitet Familien bis zum Tod eines Kindes. Damit umzugehen, musste sie lernen.
taz: Frau Danlowski, für Eltern gibt es kaum Schlimmeres, als den Tod des eigenen Kindes zu erleben. Kann man so einen Verlust überwinden?
Beate Danlowski: Wenn damit gemeint ist, dass der Schmerz vergeht – nein. Aber er verändert sich.
Inwiefern?
Die Eltern leben irgendwie weiter, auch mit dem verstorbenen Kind. Das bekommt einen Platz – im Herzen sowieso –, aber man sieht es auch, wenn man sie zu Hause besucht. Manche sind nicht fähig, das Kinderzimmer auszuräumen. Nach fünf Jahren liegt alles noch so, wie es war. Manche hängen alle Bilder ab, es kann lange dauern, bis sie wieder fähig sind, Fotos anzusehen. Die meisten sind irgendwann in der Lage, den Tod zu akzeptieren. Aber es bleibt immer eine Lücke, immer eine Wunde.
Sie sind Leiterin des Kinderhospizdienstes der Caritas. Was macht den Unterschied zum Erwachsenenhospiz aus?
In das Erwachsenenhospiz kommen Menschen in der Regel, wenn die finale Phase beginnt, also kurz vor dem Sterben. Im Kinderhospizdienst begleiten wir Kinder mit lebensbegrenzenden Krankheiten und deren Familien oft über viele Jahre.
Hat es einen Grund, dass Sie „lebensbegrenzend“ sagen und nicht „sterbenskrank“?
Ärzte sind bei Kindern sehr vorsichtig, was die Diagnose betrifft. Häufig geht die Krankheit über viele Jahre. Das sind ja oft genetische Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen. Wenn ich sage, jemand ist sterbenskrank, reduziere ich ihn auf diese schlimme Krankheit. Es gibt durchaus Kinder, die wieder gesund werden. Aber es gibt auch viele, die es nicht schaffen.
Wie viele Kinder in Berlin betrifft das?
In Berlin und Umgebung geht man von ungefähr 2.000 Kindern und Jugendlichen mit einer lebensverkürzenden Erkrankung aus, 250 bis 400 sterben jährlich. Das sind Schätzungen. Wir, der Kinderhospizdienst der Caritas, haben im vergangenen Jahr 85 Familien betreut. Das geht vom Baby bis zum 18-jährigen Jugendlichen, manche sind auch älter.
Der Kinderhospizdienst besteht aus 3 hauptamtlichen und rund 45 ehrenamtlichen Mitarbeitern. Wie kommen Sie mit den Familien in Kontakt?
Der erste Kontakt entsteht meistens über das psychosoziale Team der Klinik, wo die Diagnose erfolgt ist. Für die Familie ist das ein Schock. Sie haben überhaupt keine Ahnung, was da auf sie zukommt. Wir versuchen die Eltern, das Kind und die Geschwisterkinder kennenzulernen und die jeweiligen Bedürfnisse zu erfahren. Das macht eine von uns drei hauptamtlichen Sozialpädagoginnen. Wir haben alle eine Ausbildung in Palliative Care absolviert. Danach entscheiden wir im Team, wie wir die Familie unterstützen können. Erst dann kommen die Ehrenamtlichen zum Einsatz. Wir müssen ja auch schauen, dass die Menschen zusammenpassen.
Werden Außenstehende in so einer Situation nicht als störend empfunden?
Das erlebe ich überhaupt nicht so. Die Erfahrung ist eher die: Viele Freunde sind am Anfang sehr mitfühlend. Über die Zeit ziehen sie sich aber zurück. Wir dagegen werden von den Familien als Konstante erlebt – egal wie schwierig die Situation ist. Ein krankes Kind erfordert unglaublich viel Aufmerksamkeit und Zeit. Das ganze System der Familie gerät völlig aus dem Takt. Vor allem für die Geschwister ist das schwer auszuhalten.
Haben Sie genug Ehrenamtliche?
Wir haben nie genug. Von 15 Menschen, die am letzten Kurs teilgenommen haben, waren am Ende noch 8 übrig. Wir bieten jedes Jahr einen Kurs an. Leider ist es ein absolutes Tabuthema, im Kinderhospiz zu arbeiten.
Ist das beim Erwachsenenhospiz auch so?
Nein. Wenn man erwachsen ist, freundet man sich mit dem Gedanken an, dass es einen irgendwann auch selber trifft. Aber Kinderhospizarbeit? Das ist der Partykiller schlechthin (lacht).
Wie bereiten Sie die Ehrenamtlichen auf die Aufgabe vor?
Alle müssen ein 120-stündiges Seminar und 40 Stunden Praktikum absolvieren. In den Kursen geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um ganz viel Selbstreflexion und Selbsterfahrung. Wie bin ich bisher mit Tod, Trauer und Abschied umgegangen? Wie stelle ich mir meinen eigenen Tod vor?
Der Mensch:
Beate Danlowski wird 1959 in Paderborn geboren. Sie und ihre drei Schwestern wachsen in einem katholischen Elternhaus auf. Der Vater ist kaufmännischer Angestellter, die Mutter Schneiderin. An der katholischen Klosterschule Paderborn macht sie Abitur, an der dortigen katholischen Fachhochschule studiert sie Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Nach dem Studium geht sie nach Berlin. 1984 fängt sie bei dem katholischen Wohlfahrtsverband Caritas an. Danlowski hat zwei Kinder im Alter von 24 und 27 Jahren und ist Großmutter. Freunde und Familie seien ihr wichtig, aber sie brauche auch das Alleinsein, sagt sie. Wenn sie nicht arbeite, erhole sie sich bei langen Wanderungen in der Natur und höre auch viel Musik. Mit Vorliebe Klassik und Jazz.
Die Arbeit:
Den Kinderhospizdienst der Caritas baut sie 2011 auf. Zuvor macht sie eine Zusatzausbildung in Palliativ Care. Das ist ein ganzheitliches Betreuungskonzept zur Begleitung Schwerstkranker, Sterbender und deren Angehöriger. Der Caritas-Kinderhospizdienst hat drei hauptamtliche Mitarbeiter. Die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter ist nicht begrenzt. Zurzeit sind 45 Ehrenamtliche in den Familien aktiv. Bewerbungen für das Ehrenamt sind stets willkommen: kinderhospizdienst@caritas-berlin.de
Das ist ja schon fast therapeutisch.
Das bewegt sich in diesem Grenzbereich, richtig. Ehrenamtliche werden beispielsweise zur Betreuung der Geschwisterkinder eingesetzt, sie bringen sie zum Sport und machen mit ihnen Hausaufgaben. Wenn die Eltern es wünschen, sind sie auch bei dem kranken Kind. Wir tragen für die Familien eine hohe Verantwortung. Die erste Frage, die wir im Vorgespräch stellen, ist deshalb: Was ist die Motivation, im Kinderhospiz als Ehrenamtlicher arbeiten zu wollen?
Bei was für Antworten gehen bei Ihnen die Warnlampen an?
Es gibt Menschen, ich sage es jetzt mal ganz platt, die einen Knall haben, die sich in dieser Zone zwischen Leben und Tod bewegen wollen. Manche wollen missionieren, auch psychisch auffällige Menschen fühlen sich hingezogen. Gott sei Dank entwickelt man ein Gespür dafür, wenn Menschen nur Hospizarbeit machen wollen, um dafür Applaus zu bekommen.
Haben Sie eine gute Menschenkenntnis?
Inzwischen schon. Ich verlasse mich bei der Entscheidung mittlerweile sehr stark auf mein Bauchgefühl. Es ist aber auch schon passiert, dass wir Leute falsch eingeschätzt haben. Das ist schmerzhaft, aber sehr selten der Fall. Inzwischen ist die Passgenauigkeit so groß, dass die Familien noch hinterher sagen: Die passte so gut zu uns, wie haben Sie das denn rausgefunden?
Sie sind gläubige Katholikin, was für einen Einfluss hat das auf Ihre Arbeit?
Für mich persönlich spielt das eine große Rolle. Ich erlebe dadurch viel Kraft. Aber ich würde mit meinem Glauben niemals in die Familie gehen, es ist etwas sehr Persönliches.
Sprechen Sie das Thema Glauben überhaupt nicht an?
Nur wenn die Eltern das von sich aus ansprechen. Wir haben Familien aus allen Kulturen und allen Religionen. Ein Moslem glaubt etwas anderes als ein Christ. Wenn ein Kind schwer krank ist und es Richtung Sterben geht, wird Glaube aber bei fast allen Menschen ein Thema. Damit muss man sehr respektvoll umgehen.
Waren Sie immer gläubig?
Ich komme aus Paderborn und bin katholisch sozialisiert. Ich habe eine Klosterschule für Mädchen besucht, an einer katholischen Fachhochschule Sozialpädagogik studiert. Aber es hat auch eine lange Zeit gegeben, in der ich mit der Kirche gehadert habe.
Bitte erzählen Sie.
Ich sag’s mal so: Wenn man als Frau sieht, in der katholischen Kirche sind es 99,9 Prozent alte Männer, die darüber entscheiden, wie die Frauen zu leben haben – ob sie verhüten, abtreiben und sich scheiden lassen dürfen –, da kann man schon sehr ins Zweifeln kommen. Im Laufe des Lebens habe ich dann zu meinem eigenen Glauben zurückgefunden, der unabhängig ist von der Institution Kirche.
Nach dem Studium in Paderborn sind Sie nach Berlin gezogen.
Für mich war das die Gelegenheit rauszukommen. Und Berlin – das fand ich ganz toll. Mein praktisches Jahr habe ich hier in einer therapeutischen Wohngemeinschaft für Suchtkranke gemacht, 1984 habe ich dann beim Migrationsdienst der Caritas angefangen.
Inzwischen sind Sie 35 Jahre bei der Caritas. Den Kinderhospizdienst haben Sie aufgebaut.
Ich hatte davor den Pflegekinderdienst der Caritas geleitet. Als der Dienst mangels Weiterfinanzierungsmöglichkeiten aufgelöst werden musste, fragte mein Chef: Frau Danlowski, was machen Sie denn jetzt? Können Sie sich vorstellen, den Kinderhospizdienst zu leiten und aufzubauen? Ich hatte mich gerade schweren Herzens von meinem Team im Pflegekinderdienst getrennt, mein Vater lag im Sterben, mein Hund starb, meine Ehe wurde geschieden; ich konnte mir nicht vorstellen, die Kraft für so eine anspruchsvolle Aufgabe zu haben.
Es war aber genau das Richtige?
Im Nachhinein schon. Ich habe dann die Palliative-Care-Ausbildung gemacht. Dazu musste ich immer wochenweise nach Heidelberg fahren. Meine Kinder waren in der Pubertät und machten nur Blödsinn, wenn ich weg war. Das war schon eine harte Zeit für mich. Ich hatte darum gebeten, dass ich aufhören kann, wenn ich nach einem halben Jahr merke, ich kann das nicht.
Acht Jahre später sind Sie immer noch dabei. Wie viele Kinder haben Sie in der Zeit sterben sehen?
Es werden 25 bis 40 Familien gewesen sein, die wir bis zum Tod des Kindes begleitet haben. Unmittelbar bis zum Ende mitbegleitet habe ich vier Kinder, die Eltern hatten sich das so gewünscht. Viele wollen bis kurz vorher eine Begleitung, aber dann alleine sein.
Was macht das mit einem?
Manchmal sitze ich mit den Eltern und es ist einfach sehr schwer und traurig. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Es tut mir weh, wenn ich sehe, ein Kind hat jetzt wieder stärkere Schmerzen. Oder es hat wieder eine Fähigkeit verloren. Es gibt Erkrankungen, wo sich alles zurückentwickelt. Kinder, die sehen konnten, werden blind, taub, und alles ganz langsam und über viele Jahre. Ich baue da ja auch eine Beziehung auf. Damit umzugehen, das musste ich lernen: mitzufühlen, aber nicht mitzuleiden.
Wie stellt man das an?
Für uns ist das in erster Linie ein Kind, ein Jugendlicher, und da geht es ums Leben. Dass man das Leben bis zum Schluss so gut und schön wie möglich macht. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen, aber dieses Sterben sollte nie im Mittelpunkt stehen. Jemand, der schwer erkrankt ist, ist ein Mensch mit Gefühlen, der gerne fröhlich ist, liest, Musik hört, Quatsch macht und lacht. Die Kinder und Jugendlichen lieben das. Auch deshalb ist es toll, dass wir zunehmend jüngere Leute unter den Ehrenamtlichen haben.
Sie selbst sind auch ein eher fröhlicher Typ, richtig?
Ich lache gerne, das ist ja auch mein Vorname, Beate, die Glückliche (lacht). Wir lachen viel im Team und auch mit den Kindern und Eltern. Das sind wirklich schöne Momente, für die ich dankbar bin. Wobei, ich sage immer Eltern, eigentlich sind das ja hauptsächlich die Mütter, die rund um die Uhr mit dem Kind sind.
Was ist mit den Vätern?
Oft sind sie nicht mehr da, wenn die Kinder länger krank sind. Ich möchte mal sagen, wir haben wirklich 70, 80 Prozent alleinerziehende Mütter. Das ist eine unglaubliche Belastung. Die Beziehungen zerbrechen – nicht alleine deshalb, das wäre zu einfach. Aber Beziehungen, die schon vorher ein bisschen schwierig waren, verkraften diese Krise oft nicht. Einer muss aufhören zu arbeiten, ganz schnell gibt es auch finanzielle Not. Oft ist es auch so, dass Männer, Väter, mit der Trauer, die ja schon einsetzt, wenn das Kind noch lebt, schlechter umgehen können. Das ist die Trauer um die intakte Familie. Man möchte ja gesunde Kinder haben.
Wie erleben Sie die Männer?
Sie gehen mehr nach außen, können aber oft nicht so über ihre Gefühle sprechen. Ich hatte mal einen Vater, der hat gesagt, er betrinkt sich ab und zu mit Freunden oder macht Extremsport. Die Mütter fühlen sich ganz schnell alleine gelassen. Sie kommen dann in eine Löwenmutter-Rolle.
Wie drückt sich das aus?
Sie sind ununterbrochen mit dem Kind, auch wenn es im Krankenhaus ist. Oft lassen sie auch den Vätern unbewusst wenig Zeit mit dem Kind. Das ist ein großes Problem zwischen den Paaren. Dabei wünschen sich die Mütter, dass sie auch mal mit den Geschwistern was machen oder einfach mal nur um den Block gehen können. Oft sind die kurz vorm psychischen und physischen Zusammenbruch. Oder sie wünschen sich einfach mal jemanden, der nur zuhört. Das ist auch unsere Rolle: Wir hören sehr viel zu.
Wissen die Kinder und Jugendlichen, wie es um sie steht?
Kinder haben ganz feine Antennen, selbst wenn die Eltern nicht mit ihnen reden, was sehr häufig der Fall ist. Wie sagt man seinem Kind „Du bist so krank, wir wissen nicht, ob du gesund wirst oder ob du sterben wirst“? Das können Eltern nicht. Aber auch auf der nonverbalen gefühlsmäßigen Ebene bekommen Kinder sehr viel mit. Kleine Veränderungen: Da flüstert die Mama. Da geht jemand raus und hat Tränen in den Augen. Das kann Kinder sehr verunsichern. Kinderärzte versuchen zunehmend, sehr offen mit den Kindern über die Erkrankung zu sprechen.
Das Verständnis von Tod setzt ein gewisses Alter voraus.
Ein drei- oder fünfjähriges Kind kann auf der kognitiven Ebene natürlich noch nicht erfassen, dass Tod ein Ende bedeutet. Aber es kann fühlen, dass mit seinem Körper etwas nicht stimmt, dass es nicht mehr gesund wird. Kinder sind unheimlich klug. Je älter sie sind, umso größer ist ihr Wissensstand, das fällt mir oft auf. Sie surfen oft im Internet und sind irgendwann richtige Spezialisten für ihre Erkrankung. Aber sie verlieren auch ein Stück Kindheit durch diese Ernsthaftigkeit.
Wie ehrlich sind Sie gegenüber den Kindern?
Wenn mir ein Kind eine Frage stellt, versuche ich sie ehrlich zu beantworten. Und dann ist es auch meistens gut. Bei Kindern ist es nicht so, dass man eine halbe Stunde über den Tod spricht.
Sind die Kinder die Stärkeren?
Auf jeden Fall sind sie stärker, als wir denken. Sie intellektualisieren nicht alles und sind gefühlsmäßig näher bei sich.
Wie alt sind Ihre eigenen Kinder heute?
Mein Sohn ist 27, meine Tochter 24. Sie ist gerade selbst Mama geworden. Am Anfang, als die beiden noch jünger waren, habe ich in den Jugendlichen oft meinen Sohn und meine Tochter gesehen. Plötzlich hat man es mit Erkrankungen zu tun, von denen man noch nie gehört hat. Oder auch, wenn die eigenen Kinder krank sind und in den Arm genommen werden wollen, dass man da nicht denkt: Was hat er denn schon? Man muss aufpassen, dass man nicht ungerecht wird seiner eigenen Brut gegenüber.
Hat sich Ihre Einstellung zum Leben verändert?
Ja. Dass jeder Moment wichtig ist. Mit der Endlichkeit konfrontiert zu werden hat mich auch dankbar gemacht. Dafür, dass ich zwei gesunde Kinder habe und so alt werden durfte. Es gibt kleine Menschen, die werden nur 7. Ich bin jetzt 60.
Wie denken Sie über Ihren eigenen Tod nach?
Ich komme immer mehr dahin, dass ich ihn akzeptiere. Eher habe ich Angst vor dem Sterben. Das ist vielleicht ein Grund, warum ich schon so lange in der Hospizarbeit bin: damit Menschen in ihrer letzten Lebensphase gut begleitet werden. Dass sie nicht alleine sterben, nicht mit Schmerzen sterben, in Würde sterben. Wenn das gegeben ist, muss man keine Angst haben.
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