: „Kinder der Sünde“
SEXUELLE GEWALT Die Missbrauchs-Debatte ist eine Zwei-Klassen-Diskussion, in der das Schicksal der Heimkinder kaum vorkommt, sagt Erziehungsexperte Manfred Kappeler
■ Der 70-Jährige befasst sich als Sozialarbeiter, Psychotherapeut und Universitätsprofessor seit rund 50 Jahren mit dem Thema Heimerziehung. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005 war er Professor für Sozialpädagogik an der TU Berlin.
INTERVIEW DANIELA ZINSER
taz: Herr Kappeler, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit den Schicksalen jener, die nach dem Krieg in christlichen und anderen Kinderheimen Opfer von Gewalt – auch sexueller – wurden. In der Öffentlichkeit wurde dies kaum skandalisiert, ganz im Gegensatz zu den Missbrauchsfällen nun. Warum?
Manfred Kappeler: Wenn es die Eliteschulen und damit die bürgerlichen Schichten, die sogenannten tragenden Säulen der Gesellschaft, trifft, dann gibt es einen Aufschrei. Und den ja zu Recht. Aber für die Heimkinder, die schon immer abgeschrieben und ausgegrenzt waren, ist das bitter und empörend. Sie sind offenbar keine relevante Gruppe für die öffentliche Diskussion.
Seit wann sind die Fälle der Heimkinder bekannt?
Ich habe gerade auf dem Trödel ein Buch von 1952 gefunden, in dem die sexuelle Gewalt von Männern wie Frauen an Heimkindern bereits beschrieben ist. Und seit sieben Jahren gibt es ja eine Debatte um die Heimerziehung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren und die Opfer kämpfen darum, anerkannt zu werden – und erzwangen über den Petitionsausschuss erst einen runden Tisch. In den Medien wird das eher am Rande abgehandelt. Aber bereits in der Petition an den Bundestag 2006 spielte die sexuelle Gewalt an den Heimkindern eine zentrale Rolle. Doch im Zwischenbericht des runden Tisches dazu ist das nur mit drei Sätzen angesprochen. Eine Woche nachdem der Bericht vorgestellt wurde, wurden die Fälle im Canisiuskolleg bekannt – und schon ist von Entschädigung die Rede. Weder von den Ministerinnen, die sich dazu geäußert haben, noch von der Kanzlerin wurde auch nur mit einem Satz eine Verbindung zu den Heimkindern hergestellt. Es ist eine Zwei-Klassen-Diskussion.
Inwiefern?
Der Tenor der Berichterstattung ist immer: Wie kann das an einer Eliteschule passieren? Aber die Negativfolie davon ist ja: Wenn das in irgendwelchen Heimen passiert, wo die Kinder eh schon aus unterprivilegiertem Milieu kommen, dann gehört das irgendwie dazu. Dabei hatten die Kinder an Eliteschulen zumindest an der Oberfläche intakte Familien, zu denen sie am Wochenende und in den Ferien gefahren sind. Die rund 800.000 Heimkinder waren der Institution ausgeliefert. Und wenn sie sich überhaupt jemals jemandem anvertraut haben, dann hieß es: Du lügst und stiehlst, du bist verwahrlost, deshalb bist du hier und nun belastest du die, die sich um dich kümmern.
In der Diskussion nun spielt auch Missbrauch durch Nonnen kaum eine Rolle. Warum?
Im Prinzip wird immer relativ selbstverständlich davon ausgegangen: Das kann nicht sein, wie soll das gehen? Dabei gab es das in den Heimen vielfach. Ich kenne den Bericht einer Frau, die von einer Nonne mit einem Stock penetriert wurde, Knaben wurden gewaltsam zum Orgasmus gebraucht. In manchen Fällen war auch der Beichtvater Kristallisationspunkt der sexuellen Gewalt und die Nonnen Gehilfinnen.
Wie passen christliche Lehre und diese Form von Gewalt zusammen?
In einer meiner Veröffentlichungen beschreibe ich den Bericht einer Nonne, die einen sieben- oder achtjährigen Knaben dabei erwischt, wie er an sich rumspielt. Sie gerät außer sich, schleift ihn ins Bad und taucht ihn unter Wasser, bis er blau anläuft und sie plötzlich erkennt: Ich bin dabei, dieses Kind umzubringen. Danach ist sie, entsetzt über sich selbst, aus dem Orden ausgetreten. Diese Frauen – katholische Ordensschwestern genauso wie Diakonissen – hatten keine Form der Ausbildung oder Reflexion darüber, was sie da tun. Die christliche Auffassung war damals: Diese – oft unehelichen – Kinder sind schon Kinder der Sünde, die müssen wir ihnen austreiben. Sie verführen uns, sie sind die Schuldigen. Manche Nonnen und Priester haben selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht in der abgeschlossenen Klosterwelt, in der sie erzogen wurden.
Was müsste getan werden, um den Betroffenen Recht geschehen zu lassen?
Es müsste eine umfassende gesellschaftliche Rehabilitation für die Heimkinder geben. Das setzt voraus, dass das System der Jugendfürsorge damals als Unrechtssystem anerkannt wird und die Taten als Menschenrechtsverletzungen. Eine finanzielle Anerkennung dürfte nicht nur symbolisch sein – und es müsste alles dafür getan werden, dass nie wieder solche Verhältnisse entstehen.
Erwarten Sie, dass sich mit dem neuen runden Tisch etwas ändert?
Nicht, wenn die Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann bei der Ernennung schon sagt, ein Ziel des runden Tisches sei die Versöhnung. Es ist eine Unverschämtheit, von den Opfern zu erwarten, dass sie vergeben und sich versöhnen sollen. So wie dieser runde Tisch angelegt ist, soll er im Wesentlichen der Problementschärfung dienen. Aufarbeiten und dann ab damit auf den Müllhaufen der Geschichte. Man kann solches Gewalthandeln nicht aufarbeiten, sondern nur vorbehaltlos aufklären. Aber das setzt den Willen zur Wahrhaftigkeit voraus.