Kind mit Downsyndrom: Angst vor Deniz
Die ganze Welt sprach über Baby Gammy – aber wie fühlt es sich eigentlich an, einen Bruder mit Downsyndrom zu bekommen? Unsere Autorin weiß es.
„Dies sind Aufzeichnungen über die Angst, die einen so großen Raum in meinem Leben einnahm, die so wunderbare geistige Impulse in meiner Generation erstickte, unsere Charaktere verbog und kraftlos machte und so bittere Erinnerungen hinterließ.“
Dies sind Worte des russischen Schriftsteller Daniil Granin, die ich immer bei mir trage – weil sie mich daran erinnern, wie irreführend Angst sein kann. Denn das Gefühl der Furcht überrumpelte unsere Familie ganz unerwartet, meine Mutter wäre fast daran zerbrochen.
Es war am 3. August 1991. Ich stand morgens auf und ging ins Wohnzimmer. „Der Junge ist da“, sagte meine Schwester, während sie müde ausschauend am Wohnzimmertisch saß. Ich achtete auf das wenige Licht, das durch die Gardinen in unsere dunkle Wohnung fiel und die Schwester ein wenig weicher erscheinen ließ. Von diesem Moment an war unser Leben nie wieder so, wie es früher war.
Meine Mutter war zur Beobachtung schon seit einigen Tagen im Krankenhaus. Mitten in der Nacht war ihre Fruchtblase geplatzt, sofort wurde eine Operation eingeleitet. So kam zwei Wochen vor dem errechneten Termin mein Bruder Deniz auf die Welt. Weil er eine Notgeburt war, musste er sofort in ein etwa 30 Minuten entferntes Kinderkrankenhaus verlegt werden, ohne dass meine Mutter ihn hatte sehen können.
Was war: Die Geschichte des bei seiner Leihmutter in Thailand zurückgelassen Babys Gammy bewegte viele Menschen. Als er im Dezember mit seiner Zwillingsschwester zur Welt kam, nahmen die leiblichen Eltern nur die Schwester zu sich nach Australien. Laut der thailändischen Leihmutter ließ das Paar Gammy zurück, weil er das Downsyndrom hat.
Was ist: Gammy erholt sich derzeit von einer Lungenentzündung. Gegen den australischen Vater wird wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs ermittelt. So soll das Wohlergehen von Gammys Schwester sichergestellt werden.
Ohne dass die Mutter ihn sah
So vergingen etwa zehn Tage, wir besuchten abwechselnd unsere Mutter und meinen Bruder, die immer noch in unterschiedlichen Kliniken lagen, sprachen selten über unseren Familienzuwachs, schlichen um das Kinderbett und trödelten so vor uns hin. Es waren Schulferien, ich traf mich mit Freundinnen, wir gingen ins Schwimmbad.
Wir schlichen ums Kinderbett
Ich werde diesen Tag niemals vergessen. Einerseits ist vieles verschwommen, ich habe das Gefühl, die Szenen durch Milchglas zu betrachten. Andererseits sind manche Details so eingebrannt, ich würde sie gern verbannen. Zu dritt fuhren wir ins Kinderkrankenhaus, ein freundliches Gebäude mit viel Grün drum herum, die Gänge der Neugeborenenstation hell und überall bunte Dekoration.
Es war ein Vormittag, links den Gang entlang war das Zimmer, in dem Deniz mit anderen Babys lag. Als wir bei der Krankenschwester nach ihm fragten, wurden mein Vater und meine Schwester zum Stationsarzt gerufen. Wir haben nie darüber nachgedacht, dass etwas nicht stimmen könnte. Warum auch? Dass er eine Nackenfalte, eine Sattelnase und schräg stehende Augen besaß, sahen wir nicht. Von dem Downsyndrom hatten wir noch nie gehört.
Die beiden schlurften davon, während ich durch eine Scheibe auf den fremden Menschen schaute, welcher mein Bruder war. In einem weißen Strampler, ganz klein und mit viel Babyspeck lag dieses Persönchen friedlich da, die Gesichtszüge waren entspannt, seine Augen geschlossen, er hatte rosige Haut und viele flauschige Haare, die winzigen Händchen waren zusammengeballt.
Doch in diesem Moment war ich eher gelangweilt, wollte mich mit einer Freundin treffen. Es war die Zeit, als ich mit dem Rauchen anfing, zur Tanzschule ging, mich heimlich für Jungs interessierte, beim wöchentlichen Tanztee manchmal an einem Glas Sekt nippte und dies ganz wild fand. Familie störte da nur.
„Er ist behindert“
Es vergingen etwa 15 Minuten, dann kam meine Schwester allein zurück, sie weinte laut und wischte sich die Nase. „Er ist behindert“, sagte sie und schluchzte für alle Umstehenden hörbar. Ich schaute sie nur an und verstand nichts. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, war nur noch Fassade und Fassungslosigkeit, ich fühlte mich nicht mehr. Ich habe nie die richtigen Worte gefunden, mit denen man jenen, die so etwas nicht erlebt haben, erzählt, was für eine besondere Art von Angst das ist.
„Er wird nicht lange leben“, verschluckte meine Schwester ihre Worte, und die Tränen kullerten ihre prallen Wangen herunter, glitten in ihr schulterlanges schwarzes Haar. Ihre Worte waren wie Ziegelsteine, die schwer und direkt auf meinen Kopf zielten. Alles um mich herum verschwamm. Ich fragte nicht, was für eine Behinderung es sei, ich sagte überhaupt nichts. Ich hörte nur noch die Worte „Heim“ und „Tod“.
Mein Vater kam hinterher, sein Gesicht war hängend und leer. Mit gesenktem Kopf schaute er auf den grauen Linoleumboden, während wir Töchter heulten. Als er dann doch endlich etwas sagte, blickte er uns nicht an. „Er wird also nicht lange leben“, wiederholte er leise die Worte des Arztes. Ich gefror mitten auf diesem Gang, in den Augen meiner Schwester und meines Vaters erkannte ich, dass es bitterer Ernst war.
Entsetzliche Minuten, in denen ich nichts spürte
Was wir dann machten, weiß ich nicht mehr. Diese Momente sind vollkommen verschwunden, egal, wie sehr ich mich zu erinnern versuche. Ich kann mich an kein Gefühl erinnern, an keine Gedanken, ob ich etwas zu meiner Schwester und zu meinem Vater gesagt habe. Ich kann mich nicht einmal an ein Bild erinnern. Alles ist verschwunden von diesen entsetzlichen Minuten, die mich daran hinderten, überhaupt etwas zu spüren.
Behindert? Was heißt das? Körperlich und geistig Behinderte gab es bei uns nicht, weder in der Familie noch im Freundeskreis. In der Nachbarschaft wohnte ein geistig behinderter Junge, den wir Kinder manchmal auslachten und mit dem wir dumme Späße machten. Wenn er sich aufregte, war das ein Ansporn, noch fieser zu werden.
Seine Eltern schimpften manchmal, was uns herzlichst egal war. Wir rannten einfach weg und machten bei der nächsten Gelegenheit weiter. Mein Bruder sollte also genauso sein wie der da? Und wer sollte meiner Mutter sagen, dass ihr Sohn nicht lebensfähig ist?
Er würde nichts lernen
Ich war fest davon überzeugt, mein Bruder sei zu allem unfähig. Er würde nichts können oder lernen, nur Geräusche von sich geben und nur fordern. Wir Geschwister müssten immer auf ihn aufpassen. Meine Mutter würde immer neben ihm stehen, ihm Brei in den Mund schieben und ihm bis in seine Jugendjahre die Windel wechseln. Er würde sein Leben nie genießen können, weil er überhaupt nicht wüsste, was das Leben ihm eigentlich alles bietet. Dann würde er früh sterben.
Deniz war gerade einmal wenige Tage alt, ich war erst zwölf und hatte noch nie einen Jungen geküsst, und ich dachte schon an seinen Tod.
Mein Vater sagte es dann meiner Mutter.
Als sie Deniz das erste Mal im Krankenhaus besuchte, hatte sie Mühe, den Weg durchzuhalten. Sie wusste ja nicht, was sie im Krankenhaus erwarten würde. Wieder bogen wir in das Zimmer auf der linken Seite ab. Dort angekommen, setzte sie sich auf einen Stuhl und nahm das kleine Wesen in ihre Arme, fasste ihn vorsichtig an wie ein Juwel. Sie wirkte sehr verletzlich, wie sie da saß. Sie sah so einsam aus, obwohl wir doch da waren. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie auf der Stelle gestorben wäre.
Dann streichelte sie seinen Kopf
Sie hatte den Kopf zur Seite gesenkt und schaute Deniz wie einen Fremdkörper an. In ihrem Blick befand sich keine Zärtlichkeit, nicht die Liebe einer Mutter für ihr Neugeborenes. In ihren Augen waren nur Traurigkeit, sie erzählten von dem Schrecken dieses Schicksalsschlages, von der Angst davor, was auf sie zukommen würde. Dann endlich legte sie ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte sanft seine dünnen Haare, die wild nach oben abstanden und ihn sehr keck aussehen ließen.
Sie fühlte seine Bewegungen in ihrer Hand. Die ganze Zeit sprach keiner von uns, lediglich das Gebrabbel des Kleinen war zu hören. Bei der Rückfahrt schaute Mama nach innen gewandt aus dem Fenster und blieb stumm. Es war unmöglich, ihren verlorenen, ins Weite gerichteten Blick zu deuten, später erzählte sie mir, dass ein katholischer Pfarrer ihr während dieser Zeit beigestanden habe.
Hätte sie es gewusst, sie hätte abgetrieben
Wir haben nie in Erwägung gezogen, dass das Kind krank sein könnte. Irgendwie haben wir uns überhaupt keine Vorstellungen über unsere Zukunft gemacht. Und meine Mutter machte wegen ihrer 38 Jahre zwar eine Fruchtwasseruntersuchung, doch der Arzt fand nichts. Im Gegenteil: „Herzlichen Glückwunsch, ihr Junge ist gesund“, sagte er zu ihr. Hätte sie gewusst, dass Deniz das Downsyndrom hat, hätte sie ihn abgetrieben.
Wir hätten Deniz vor lauter Furcht aufgegeben, noch bevor er da gewesen wäre. Aus Angst, dass wir unsere Leben ändern müssten. Aus Sorge, dass wir es nicht schaffen würden mit ihm. Aber nichts, was der Arzt im August 1991 gesagt hatte, hat sich bewahrheitet. Ja, das Zusammenleben mit ihm ist schwierig – jeder, der ein behindertes Familienmitglied hat, weiß, was ich meine.
Aber es ist auch wunderschön. So schön, dass wir ihn niemals gegen einen gesunden Deniz eintauschen würden, bis heute lebt er bei meinen Eltern. Daniil Granin hat recht, wenn er schreibt, dass die Angst einen kraftlos macht und lähmt. Deniz hat uns die Angst genommen, denn wenn er furchtlos und unbeschwert sein kann, dann wollen wir das auch. Um das nicht zu vergessen, trage ich diese Zeilen immer mit mir. Ich habe sie kürzlich sogar jemandem geschenkt – ich weiß nicht, ob er sie verstanden hat.
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