■ Kernenergie wird kriminelle Energie: Die Basis entscheidet?
betr.: „Obrigheim bleibt noch zwei Jahre“ u. a., taz vom 15. 10. 02
Der durch und durch faule Kompromiss zum AKW Obrigheim stellt Sinn und Zweck des Atomgesetzes auf den Kopf. Die Möglichkeit, zulässige Strommengen zu übertragen, ist kein beliebiger Verschiebebahnhof. Sie hätte eine nachvollziehbare Funktion, wenn dadurch besonders gefährliche und gefährdete Kraftwerke früher abgeschaltet werden. Das Werk Obrigheim ist dafür ein klassischer Fall: Der Stahlbehälter des Reaktor ist nicht bruchsicher, bei laufendem Betrieb kann das der Super-GAU sein; die Betonhülle ist weit schwächer ausgelegt als bei Neuanlagen, sie ist daher leichter zu zerstören. Vor allem aber fehlen wichtige Sicherheitsvorkehrungen, und der Reaktor wurde zehn Jahre lang ohne funktionsfähiges Notkühlsystem betrieben.
Das Atomgesetz sieht den sofortigen Entzug der Betriebsgenehmigung einer Anlage vor, wenn ein Unternehmen sie derart leichtfertig betreibt. Mehr noch: Die EnBW hat ihr sicherheitstechnisches Roulettespiel nicht nur in Obrigheim, auch an den AKW-Standorten Philippsburg und Neckarwestheim unter „Beweis“ gestellt. Die rote Karte gegen EnBW ist fällig – dennoch soll mit rot-grünem Segen verlängert werden. Statt verantwortlicher Sicherheitsvorsorge darf weiter mit dem nuklearen Feuer gespielt werden. Eine Regierungspolitik, die mit Hochrisikotechnologie Basarhandel treibt, ist nicht zustimmungsfähig. HARTWIG BERGER,
B 90/Die Grünen Berlin
Es gibt viele strittige Positionen: der Koalitionsvertrag, in dem man den Stimmenzuwachs der Grünen nicht gerade erkennen kann. Die Wehrpflicht gibt es immer noch, die Ökosteuer nicht mehr lange, und beim Akw Obrigheim wurde ein fauler Kompromiss mit den Betreibern gefunden. Gerade bei dem letzten Punkt ist Aufstand programmiert. Es liegt ein Antrag vor, der sich für die sofortige Abschaltung des AKW Obrigheim ausspricht. Ob er eine Mehrheit findet, ist ungewiss. Ob die grüne Basis der Satzungsänderung (die Aufweichung der Trennung von Amt und Mandat) zustimmt, ist ebenfalls ungewiss. Allerdings wird es da sicherlich auch einen Mittelweg geben, den keiner wollte, aber doch alle gut finden.
Ich hoffe, dass sich die grünen Delegierten auch mal wieder ein bisschen mehr gegen den Bundesvorstand durchsetzen und zeigen, wer in dieser Partei die Macht haben sollte. Wenn nicht? Ja dann machen wir auch alle weiter, denn was wäre die Alternative? […] RASMUS ANDRESEN, Flensburg
Was beinahe den gemeinsamen Regierungsstart von Rot-Grün platzen ließ – die weitere Laufzeit vom AKW Obrigheim – ist komischerweise nicht Bestandteil des ausgehandelten Koalitionsvertrages! So fällt es den Grünen auf ihrem kommenden Parteitag natürlich leicht, diesem Koalitionsvertrag zuzustimmen, denn vom AKW Obrigheim steht kein Wort darin. Das auf dem Parteitag stattfindende „Geplänkel um Obrigheim“ ist somit eine reine Farce, pures Volksverdummungstheater.
Die Grünen haben in den vier Jahren Regierungszeit schnell gelernt, wie mit gesetzlichem Recht „umzugehen“ ist. Der Atomkonsens ist somit bereits beim ersten Ausstiegsschritt auf Kosten der Sicherheit der Bevölkerung gescheitert.
Alte Autos werden nach einer gewissen Laufzeit vom TÜV aus dem Verkehr gezogen. Doch bei unseren Atomkraftwerken, die nach vielen Jahren Laufzeit spröde werden, arbeitet der TÜV nachweislich so unverantwortlich schlampig, dass wir ihm umgehend die Kontrolle der AKWs entziehen sollten. KARIN BECKER,
Stadträtin der Frauenliste Wiesloch
Hätte die EnBW eine Verlängerung der Laufzeit um zwölf Jahre gefordert, dürfte sie den Schrottreaktor Obrigheim nun wahrscheinlich um fünf Jahre länger betreiben – wenn die grüne Basis dem wieder einmal zustimmt. […]
Ein Kompromiss für die grüne Basis könnte ja heißen: zwei weitere Jahre für Obrigheim nur dann, wenn alle AKWs endlich mit einer realistischen Versicherungssumme in vielfacher Milliardenhöhe versichert werden. Denn der Atomkonsens hatte zur Folge, das die AKWs nicht mehr versichert sind, sondern mit viel billigeren Bürgschaften zwischen den Betreibern betrieben werden dürfen. Müsste die Atomindustrie ihre alten Meiler richtig versichern, dann würden so einige von ihnen sofort stillgelegt. Das Entscheidende ist: Die Basis entscheidet. Oder nicht?
ALEXANDER SASSE, Marburg
betr.: „Tag X ab 9. November“ (Größter deutscher Atommüllzug aller Zeiten rollt störungsfrei durchs deutsche Land. Urteil im Prozess gegen Castorgegner wegen Gleisbesetzung vor 18 Monaten erwartet), taz vom 11. 10. 02
Ab dem 11. November soll erneut ein Großtransport von zwölf Castoren, jeder 120 Tonnen schwer, nach Gorleben rollen. Ein unvorstellbares Zerstörungspotenzial. Dann herrscht im Wendland wieder Ausnahmezustand. Es werden jetzt feste Unterkünfte für Polizeihundertschaften gegen den Willen der Bevölkerung gebaut. Eine Polizeiarmee soll weiter jährlich gegen die widerständige Bevölkerung vorgehen. Die rot-grüne Ausstiegslüge demaskiert sich so selbst. Es kümmert die Regierenden auch nicht, dass gegen die Genehmigungsvorschriften Container ohne Stoßdämpfer durch Wohngebiete, über marode Brücken und sogar über den von der Flut aufgeweichten Bahndamm gekarrt werden. Das alles macht deutlich: Kernenergie wird zu krimineller Energie und Kriegsenergie.
Statt Atombetreiber und Deutsche Bahn vor Gericht zu stellen, werden Menschen verurteilt, weil sie aus Verantwortung für das Leben der Castor-Todesfracht keine freie Bahn gewähren wollen. Sie alle verdienen Solidarität und Unterstützung, damit ihre finanzielle Existenz nicht durch Gerichtsurteile ruiniert werden kann. ILONA JOERDEN, Göhrde
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