Keine Träne für die Täteropfer?

Die These von „antideutschen“ Gruppen, es habe 1945 in Deutschland keine Zivilisten gegeben, ist auch in der radikalen Linken umstritten / Doch eigentlich geht es um ein Dilemma linker Politik  ■ Von Uwe Rada

Als er am Morgen danach von der Bombardierung Dresdens erfuhr, trieb Erich Kästner die Sorge um seine Eltern in der Dresdner Neustadt. Erst zwei Wochen später erreichte den in Berlin lebenden inneren Emigranten Kästner eine Nachricht aus Dresden. Seine Eltern lebten, 25.000 andere jedoch kamen im Bombenhagel der „Operation Donnerschlag“ in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 ums Leben.

Wären seine Eltern unter ihnen gewesen, Kästner hätte nach Ansicht der heutigen „Antideutschen“ und „Antinationalen“ keine Träne vergießen dürfen. Mehr noch: Nicht nur die 25.000 Toten, auch der verbotene Autor Erich Kästner, der nicht nur die Verbrennung seiner Bücher am 10. Mai 1933 hautnah erlebte, sondern auch die kommenden zwölf Jahre bis zur Befreiung, waren demnach selbst schuldig, weil es keine Unschuld mehr gab.

Schließlich, so heißt es bei der Kampagne „Keine Träne für Dresden“, die für den heutigen Montag um 16.30 Uhr zu einer Demonstration an der Neuen Wache aufruft, habe es nach der „Zustimmung der Deutschen zum totalen Krieg“ keinen Unterschied mehr zwischen Militär und Zivilbevölkerung gegeben.

Daß der Versuch der Bundesregierung, aus Anlaß der Bombardierung Dresdens einmal mehr Täter zu Opfern umzulügen, nicht ohne Widerstand hingenommen werden darf, ist in der radikalen Linken unumstritten.

Zehn Jahre nachdem Richard von Weizsäcker die Revisionisten mit dem Wort von der Befreiung in die Schranken wies, gehört es heute offenbar zur „deutschen Normalität“, die Bombardierung der Elbmetropole – wie der Intendant der Dresdner Musikfestspiele, Michael Hampe – als „apokalyptisches Ereignis“ zu stilisieren, „das wie kein zweites zum Symbol des Untergangs, des Grauens und des Leidens wurde, das jener Krieg über die Menschheit brachte“.

Das ist staatlich betriebener Revisionismus, der die bisherige Schamgrenze, die Aufrechnung der Naziverbrechen gegen die Vertreibung, verschiebt, indem er versucht, Auschwitz mit den Tränen um die eigenen „Opfer“ wegzuwischen. Die Neue Wache an der Spree, vor der alle Opfer und Täter gleich sind, gibt einen Vorgeschmack auf die Feierlichkeiten zum 8. Mai. Dort solle der Faschismus endgültig vom deutschen Stundenplan suspendiert und durch das wertfreie und wertlose Begriffspaar Krieg und Frieden ersetzt werden, wird befürchtet.

Eine linke Antwort – aber welche?

So unbestritten notwendig in der Linken eine Antwort auf dieses Rollback ist, so umstritten ist das „Wie“. Während die selbsternannte „antideutsche“ und „antinationale“ Linke mit ihrem Slogan „Keine Träne für Dresden“ bewußt auf Provokation setzt, geht es weiten Teilen der antifaschistischen Linken darum, sich nicht so ohne weiteres aus der politischen Debatte zu verabschieden. Schließlich geht es nur vordergründig um die Frage, ob die Bomben auf Dresden ein notwendiger Teil eines gerechten Kriegs waren, ein Entlastungsangriff der Alliierten für die Rote Armee, die Vernichtung eines der Zentren der deutschen Rüstungsindustrie oder ein bloßer Racheakt der Alliierten, zwei Jahre nachdem der Krieg entschieden war, wie Ulkrike Meinhof einmal sagte.

In der Wahrnehmung des Junge Welt-Redakteurs Jürgen Elsässer kommen Nichttäter ebensowenig vor wie „Nicht“-Deutsche heute. Statt dessen wird das weiße Weltbild durch ein schwarzes ersetzt: Wer die „antideutschen“ und „antinationalen“ Positionen nicht teilt, macht sich schuldig und wird zum Täter, so der Aufruf für die morgige Demonstration.

Ein solcher Bärendienst von links angesichts der ideologischen Offensive von rechts wurde selbst der autonomen Wochenzeitschrift Interim zu bunt. Sie weigerte sich, einen Text der „Bomber-Harris- Fans“ zu drucken – jenes britischen Generals, der die massive Bombardierung von deutschen Wohnvierteln als Kriegsstrategie entwickelte.

Und eine autonome Gruppe wagte es gar, sich über das plötzliche Engagement der antinationalen und antideutschen K-Grüppchen lustig zu machen. Gegenattacke der Antinationalen: Ihre Kritiker würden den Revisionismus verharmlosen und auf die „Auschwitz-Lüge“ reduzieren.

Hinter dem Konflikt um Dresden steckt freilich ein viel tiefer sitzender Dissens in der radikalen Linken. Die Antinationalen behaupten, es gehe nicht um die Frage, „ob wir als Linke attraktiv bleiben oder werden wollen“, sondern darum, ob „wir den deutschen Konsens mittragen oder nicht“. Dahinter verbirgt sich das Dilemma, daß sich ein Teil der radikalen Linken längst schon vom Gegenstand ihrer Politik verabschiedet hat: den Menschen.

Geht es dem verbliebenen Häufchen Autonomer weiter um die Perspektive einer sozialen Opposition, ziehen sich die K-Gruppen auf ihre eigenen Positionen zurück, mutiert die „Haltung zu Dresden“ eben nicht zur entschiedenen Kritik an der „deutschen Normalisierung“, sondern zum „Lackmustest für die Haltung zu diesem Land und seinen BewohnerInnen“. Einem Land, in dem es also, außer ihnen selbst, ausnahmslos Täter zu geben scheint.

Menschen bleiben ausgeblendet

Auf die Frage, was für ihn der Herbst 89 eigentlich bedeute, antwortete einer der Antideutschen, der Junge Welt-Chef Oliver Tolmein, unlängst ohne mit der Wimper zu zucken: „nationaler Taumel“. Daß eine linke Politik gegen die Menschen zum Scheitern verurteilt ist, paßt eben nicht in ein Weltbild, in dem keine Menschen mehr vorkommen, weil die radikallinken Protagonisten sich selbst genügen.

Daß im Weltbild der „Antideutschen“ nur noch und ausschließlich Schuldige, aber keine Zivilisten oder Opfer mehr vorkommen, ist im übrigen ebenfalls das Ergebnis einer linken Debatte, in der die in Deutschland Gebliebenen entweder zu willenlosen Tätern oder heimlichen Widerstandskämpfern stilisiert wurden.

„Die Zeit ist kaputt“ heißt ein Buch von Klaus Kordon, in dem der revisionistischen Bestrebungen gewiß unverdächtige Autor den Lebensweg des inneren Emigranten Kästner nachzeichnet und damit dem Verdikt Joseph Roths widerspricht, demzufolge jeder, der in Deutschland geblieben war, eine Bestie sei.

Kästners Problem war in den zwölf Jahren Faschismus nicht nur die Gratwanderung zwischen Autonomie und Affirmation, sondern auch von den Exilanten menschlich wie politisch isoliert worden zu sein. Ein Täter? Ein Opfer? Oder doch ein deutsches „Schicksal“, das es, um der Realität näherzukommen, verdient, näher betrachtet zu werden?