: Keine Alternative
Zur Kritik der SPD am Staatsvertrag ■ K O M M E N T A R
Jetzt hat Lafontaine Flagge gezeigt, aber es sieht stark nach einem orange-weißen Rautenmuster aus. Dem abgefahrenen Einheitszug sollen offenbar Fahrplanänderungen hinterhertelegraphiert werden. Verständlich, daß der Kanzlerkandidat nicht die politische Verantwortung für den Staatsvertrag übernehmen will; plausibel, daß er einen besonderen Schutz für die DDR-Wirtschaft reklamiert; und nur zu logisch ist, daß Lafontaine auf die schweigende Mehrheit derer hofft, die im Namen der Vernunft, des Sachverstandes und der sozialen Ängste für eine Verlangsamung der deutschen Einigung sind. Nachverhandlungen, Nachbesserungen also, aber bitte nach welchen Zeitplänen? Will die SPD die Bundesratsmehrheit ausspielen, will sie den Staatsvertrag zum Fall des Vermittlungsausschusses machen, dann soll sie auch sagen, daß der 2. Juli als Datum der Währungsunion nicht haltbar ist. Die Währungsunion „inhaltlich“ abzulehnen und gleichzeitig den wichtigsten übergesetzlichen Glaubenssatz, das Zentrum der Kohlschen Unfehlbarkeitsdoktrin, das Naturrecht auf Sommerferien mit Valutamark bestehen lassen - das ergibt keine politische Position. Das ist fortgesetzte Bedenkenträgerei, aufgemischt mit Schlachtrufen.
Lafontaines Intervention mag zwar für kurze Zeit das kontroverse Presseerklärungstheater unterbinden. Aber sie reicht nicht aus, um die SPD zu einer grundsätzlichen Revision ihrer Politik zu bringen. Sie wird nicht den Bruch der großen Koalition riskieren, sie wird sich nicht einmal davon überzeugen lassen, daß sie in den Verhandlungen um den Staatsvertrag schlecht gepokert hat. Ob Lafontaines Position ausreicht, den schwelenden Streit innerhalb der SPD-West über das Ja und Nein zum Staatsvertrag aufzulösen, kann man bezweifeln. Sie ist ein Taktieren mit dem Grundsätzlichen, ein kategorisches Jein: Vertreten wird eine bessere, „sozialere“ Verteilungspolitik, die logisch wiederum den Staatsvertrag voraussetzt. Aber die Abkehr von der Währungsunion jetzt, die Verlangsamung des Einigungsprozesses würde eine prinzipielle Umkehr der Deutschlandpolitik von Kohl, eine radikale Revision aller Zeitpläne bedeuten.
Lafontaine interveniert im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“. Doch das ist ein relativer Begriff. Sozial gerecht ist es auch - vom Bundesbürger aus gesehen - daß die DDR-Bürger die Konsequenzen von vierzig Jahren Kommandowirtschaft tragen, an der ja alle mitgewirtschaftet, mitprofitiert haben. Warum sollte die DDR als ehemaliges Ostblockland von den Härten und Verarmungsprozessen im Übergang zur Marktwirtschaft befreit sein? Oder man definiert den Begriff der sozialen Gerechtigkeit vom Wunsch der DDR-Bürger, möglichst schnell Bundesbürger zu werden. Dann ist nichts dagegen einzuwenden, daß der Bundesfinanzminister das letzte Wort behält. Außerdem: Wer garantiert denn, daß die Übergangsmaßnahmen und Schutzfristen für die DDR-Wirtschaft dieselbe in absehbarer Frist weltmarktfähig machen? Vor allem: Die SPD kommt mit ihren Nachverhandlungswünschen zu spät. Sie hat es der Bundesregierung erlaubt, daß das Parlament bei der Ausarbeitung des Staatsvertrages außen vor geblieben ist. Jetzt sind die politischen Alternativen jedenfalls anders geschneidert. Die SPD-Position mag richtige Argumente haben, was ihr fehlt, ist die Angst in der Geschichte. So wie die DDRler gegenwärtig von Zukunftsängsten heimgesucht werden, kann man schlechterdings nicht mehr für Warten plädieren. Hier hat Kohl Fakten geschaffen, massenpsychologische Fakten, wenn man will. Das einzig wirkliche Argument wäre ein erneuerter Anspruch an den Volkssouverän, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Eine Erneuerung der politischen Verantwortung des Demos, die einst im Begriff der demokratischen Revolution lag.
Nicht soziale Gerechtigkeit oder schneller Anschluß ist also die Alternative, sondern schneller Anschluß oder Demokratie. Daraus eine deutschlandpolitische Gegenposition zu entwickeln, ist gewiß schwer, von Wahlkampfstrategien ganz zu schweigen. Aber die SPD protestiert nicht einmal im Namen der Demokratie gegen den Staatsvertrag; sie hat es hingenommen, daß ihre Schwesterpartei auf den Vorschlag einer parlamentarischen Kommission als Kontrollorgan im Staatsvertrag verzichtete. Es gibt überhaupt kein Zeichen, daß die SPD im Namen der Demokratie es wagen würde, von der CDU als Feind der deutschen Einheit angegriffen zu werden. So erscheint denn Lafontaines Intervention als der Versuch, aus dem Dilemma eine Notlösung zu machen. Sie versucht sich aus der politischen Verantwortung zu entwinden, die der Wahlsieg in NRW und Niedersachsen einbrachte. Die SPD distanziert sich politisch wirkungslos vom Staatsvertrag, um in den kommenden Wahlen von seinen Auswirkungen zu profitieren. Nur bei distanzierender Akzeptanz des Staatsvertrages kann sie überdies erfolgreich die gesamtdeutschen Wahlen verzögern. Weil dafür der Fortbestand der großen Koalition Voraussetzung ist. Aber werden die „Schlangenwendungen der Klugheitslehre“, wie Kant die politische Taktik nennt, erfolgreich sein? Genau das ist höchst fraglich. Man kann nicht gleichzeitig im abgefahrenen Zug fürs Abspringen sein und mitfahren wollen. Das wird weder die SPD-Länder zu einer wirksamen Politik bringen noch die Bundestagsfraktion noch die Schwesterpartei. In Wahrheit ist der sozialdemokratische Dissens zum Staatsvertrag die Entdeckung einer politischen Variante, die besonders in grünen Bundesversammlungen bislang entfaltet wurde: die lautstarke Entscheidung fürs Grundsätzliche bei sorgfältiger Vorbereitung der eigenen Wirkungslosigkeit. Eine grundsätzlich andere Deutschlandpolitik verlangt in diesen Tagen mehr Mut, mehr Ideen und ein nahezu halsstarriges Vertrauen auf die demokratische Auseinandersetzung. Wenn die SPD tatsächlich keine Chance für eine andere Deutschlandpolitik sieht, dann soll sie sich zum Verlust ihrer deutschlandpolitischen Spielräume bekennen. Ein zweideutiges, halbernstes Nein bewirkt im Augenblick jedenfalls nur, daß aus einer Niederlage das selbstgerechte Einverständnis mit der Ohnmacht folgt.
Klaus Hartung
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