: Kein schönes Land
„Ostpreußen – Entschwundene Welt“ ist für Revanchisten eine Riesenenttäuschung: Hermann Pölking legt im Film die Ideologie der historischen Bilder frei, die er montiert

Von Wilfried Hippen
Warum kommt in diesen Zeiten ein Film über Ostpreußen in die Kinos? Die Dokumentation „Ostpreußen – Entschwundene Welt“, der heute seine „Welturaufführung“ im Lüneburger Filmpalast und morgen seine „Premiere“ in der Bremer Schauburg feiert, bietet kein Futter für Revanchisten. Und ihr Urheber ist ideologisch unverdächtig. Der Bremer Historiker Hermann Pölking nennt sich selbst einen „linken Sozialdemokraten“. Sein Film hat nichts romantisch Verklärendes an sich. Also eher kein schönes, als „kein schöner Land“.
Pölking, der nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Historiker arbeitet, hat neben historischen Arbeiten wie „Der Bruderkrieg 1870/71“ und „Wir Deutschen“ auch die Sachbücher „Ostpreußen – Biografie einer Provinz“ und „Das Memelland: Wo Deutschland einst zu Ende war“ geschrieben. Bei den Recherchen für die war ihm aufgefallen, dass es kaum historische Filmaufnahmen aus diesen Gebieten gab.
Also begann er 2012, noch während der Arbeit an den Büchern, Filmaufnahmen aus dem historischen Ostpreußen zu sammeln. Denn Pölking ist nicht nur Autor, sondern auch Filmemacher. Seine Spezialität sind Kompilationsfilme mit historischen Filmaufnahmen: So montierte er 2017 einen siebeneinhalb Stunden langen Film mit dem Titel „Wer war Hitler?“. Vor zwei Jahren hat er den Film „Bremen wird bunt“ mit historischen Farbaufnahmen der Hansestadt produziert.
In deutschen, russischen und US-Archiven kamen insgesamt gut 60 Stunden Ostpreußen-Filmmaterial zusammen. Dazu gehörten sowohl deutsche als auch sowjetische Propagandafilme. Hinzu kamen viele Amateuraufnahmen. Nun ist es zwar eine Binsenweisheit, dass es keine ideologiefreien Bilder gibt, aber gerade beim Thema Ostpreußen ist es geradezu zwingend zu fragen, von wem Filmaufnahmen zu welchem Zweck gedreht wurden.
Genau dieser quellenkritische Ansatz macht Pölkings neuen Film interessant. Denn einerseits zeigt er in seinem Film die schönsten und interessantesten Fundstücke aus seiner Sammlung. Darunter sind viele Bilder, die bisher sonst nirgends zu sehen sind: Farbaufnahmen von Königsberg, Hitler, der am Bahnhof bei der Wolfsschanze nervös und ungeduldig auf die Einfahrt eines Zugs mit wichtigen Gästen wartet. Oder auch Bilder vom Rückzug der geschlagenen deutschen Armee, bei denen man sich fragen muss, warum bei all dem Elend und Chaos noch jemand die Energie aufbrachte, eine Kamera zu bedienen.
Auf der Tonspur wird dabei immer erklärt, wo die Aufnahmen warum und von wem gemacht wurden. Diese Faktenfülle würde erdrückend wirken, wenn die Kommentare nicht von Heidi Jürgens und Peter Kaempfe eingesprochen worden wären. Die beiden haben so viele Fernsehdokumentationen für Radio Bremen und den NDR eingesprochen, dass ihre Stimmen für norddeutsche Ohren vom ersten Wort an vertraut und beruhigend wirken. Außerdem wurde der Kommentar in einem locker, wohlgelaunten Stil verfasst. Manchmal menschelt er sogar ein wenig: „Vater hat’s verboten!“ hört man, wenn ein Kind auf einem von einem Pferd betriebenen Drehrad Karussell fährt.
Aber man erfährt eben auch, dass die Firma Boehner-Film 1943 den propagandistischen Kulturfilm „Land an der Weichsel“ veröffentlichte und ihn 1963, inzwischen nach Hamburg umgesiedelt, noch einmal, „von Nazisymbolen bereinigt“, in die Kinos brachte. Wenn ein Soldat in Kriegszeiten auf Fronturlaub in Ostpreußen schöne Bilder aufnahm, dann kann Pölking erzählen, dass er diese mit einer billig im besetzten Frankreich gekauften, französischen Kamera gemacht haben muss.
Pölking ist nicht daran interessiert, folkloristische Bilder von Landschaften, Tieren und urigen Menschen zu zeigen. Solche beliebten, oft aufgenommenen Motive hat er weggelassen. Und wenn er einmal Amateuraufnahmen vom Nationaldenkmal in Tannenberg zeigt, erklärt er im Kommentar, dass dieses vermeintlich heroische Motiv das mit Abstand am meisten fotografierte in seiner Sammlung ist.
Bei einem Kompilationsfilm wie diesem besteht die kreative Arbeit des Filmteams vor allem in der Montage. Pölking hat den Film sehr geschickt strukturiert und geschnitten. So beginnt er nicht mit Bildern, sondern mit Tonaufnahmen des inzwischen so gut wie ausgestorbenen ostpreußischen Dialekts. Die meisten der Filmaufnahmen sind dagegen stumm. Sie wurden von einem Geräuschemacher möglichst naturalistisch vertont. Auch dies erklärt Pölking sehr früh im Film.
Die ersten Bilder des ansonsten chronologisch erzählten Films stammen aus dem letzten Kapitel der Geschichte: dem Ostpreußen im Jahr 1944 mit der Flucht vor der anrückenden Roten Armee. Pölking hat sich nach anderen Schnittversionen für diese Lösung entschieden, damit die Zerstörung durch sowjetische Soldaten nicht als Zielpunkt der Dramaturgie wirkt. Danach zeigt er dann Aufnahmen von der Landung eines Luftschiffs in Königsberg. Und am Ende stehen schöne und friedliche Bilder von einem herrlichen Sommertag im Jahr 1944. Bald danach gab es Ostpreußen nicht mehr.
Kino „Ostpreußen – Entschwundene Welt“ läuft im Filmpalast, Lüneburg, am 15. 5., 19 Uhr; im Filmpalast, Schwanewede, am 15. 5., 16 Uhr, und am 16. 5., 18 Uhr, sowie am 18. 5., 17.30 Uhr; in der Schauburg, Bremen, am 16. 5., um 17.45 Uhr; im Casablanca, Oldenburg, am 18. 5., 17 Uhr, 19.–21. 5., 15.15 Uhr; im Schauburg-Cineworld, Vechta, 21. 5., 20 Uhr
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