Kein „off limits“ für Journalisten in Phillipstal

■ Im Mordfall Carola und Melanie Weimar ermittelt jetzt auch die Regenbogenpresse / Belagerungszustand im nordhessischen Philippstal Bei der „Wahrheitsfindung“ spielt Geld keine Rolle / Behördenstreit um die Tatverdächtigen / Auch Juristen wittern Karriere–Chancen

Aus Fulda Eva Machnitzke

Am 4. August - einem Montag - werden im nordhessischen Philippstal bei Fulda zwei kleine Mädchen ermordet. Die Geschwister Carola und Melanie Weimar sind fünf und sieben Jahre alt. Die Öffentlichkeit reagiert heftig: Eine ganze Hundertschaft von Journalisten belagert fortan den Ort und das „Mordhaus“. Die Behörden sorgen für Verwirrung. Erst wird die Mutter der beiden Mädchen, eine 28jährige Krankenschwester, als Tatverdächtige festgenommen. Dann wird sie freigelassen und der Vater, ein 34jähriger Bergwerksschlosser, festgenommen. Auch er wird vom zuständigen Haftrichter wieder auf freien Fuß gesetzt. Es mangele am „dringenden Tatverdacht“. Danach fühlt sich die Journaille vor Ort verpflichtet, den Mörder auf eigene Rechnung zu fangen. er Philippstaler Ortsteil Röhrichshof–Nippe ist schwer zu finden. Unbekannte haben den Wegweiser umgehauen. Das „Mordhaus“ steht abseits, eines von drei Häusern, die in der 50er Jahren für die Arbeiter des nahegelegenen Kali–Bergwerks gebaut wurden. In der Siedlung wohnen heute ungefähr 60 Menschen in ihren Eigentumswohnungen. Die Szene „vor Ort“ in der vorigen Woche: Überall stehen Autos. Der Hessische Rundfunk dreht einen Bericht für die Hessen schau. Die Bewohner der Siedlung schauen aus allen Fenstern. Die Mutter der beiden ermordeten Mädchen lebt in einer Parterre– Wohnung. Auch sie lehnt im Fenster und wird gerade von einem Reporter der Bild am Sonntag interviewt. Im Haus lebt außerdem ihre Familie - samt den angeheirateten Männern. Die öffentliche Meinung wirft ihr vor, daß sie während der Mordnacht möglicherweise ihren amerikanischen Freund, einen GI, im nahegelegenen Bad Hersfeld besuchte. Die Großgemeinde Philippstal liegt direkt an der Grenze zur DDR und ist deshallb für GIs verboten, „off limits“. In Bad Hersfeld und Fulda streiten Polizei, Staatsanwaltschaft und Haftrichter um die mutmaßlich Tatverdächtigen. Der Leiter der Sonderkommission (Soko), die in dem Mordfall ermittelt, ließ inzwischen durchsickern, daß er die Eltern nicht für die Täter halte. Er setzte sich damit in Gegensatz zur Staatsanwaltschaft. Mittlerweile wünscht er sich „nichts sehnlicher, als einen anderen großen Fall irgendwo im Bundesgebiet“. Inzwischen sitzt er allerdings unentwegt am Telefon und beantwortet - ausweichend - Fragen der zahlreichen Journalisten. Die vor Ort recherchierenden Presseleute logieren schon seit Wochen alle im Bad Hersfelder Kurpark–Hotel. „Es ist das ein zige mit Schwimmbad“, sagt der Reporter der Bild am Sonntag. Der örtliche Kreisanzeiger mutmaßt, daß die angereisten Kollegen nach dem Motto „Geld spielt keine Rolle“ arbeiten. Beim Ausstellen der Schecks für Interviews und Fotos sind die Vertreter der Regenbogenpresse nicht kleinlich. Es ist von „drei– bis vierstelligen Summen“ die Rede. Schwierigkeiten, an Informationen zu kommen, gibt es nur, wenn die örtlichen Banken geschlossen haben. Anscheinend bevorzugen die Philippstaler Bargeld. Auf offizieller Seite ist einzig der „Fremdenverkehrsverband Waldhessen“ in der Lage, diesen ganzen Rummel unter einem positiven Aspekt zu sehen. Der Bürgermeister ist zurückhaltender. Er hätte sich „eine bessere Werbung“ für seinen Ort gewünscht. Die Spekulationen im Ort sind vielfältig. Ein Tankwart ist davon überzeugt, daß der amerikanische Freund der Mutter der Mörder gewesen ist: „Der soll doch sowieso ein Neger sein!“ Beim örtlichen Bundesgrenzschutz meinen fast alle, die Mutter sei die Täterin gewesen. Es komme jetzt darauf an, daß die Frau „aufhört zu lügen“. „Die hat viel gelogen und ihren Mann beschuldigt.“ Man hält sie für „dominant, kaltherzig und berechnend“. Dem Vater traut keiner den Mord zu. Der ist inzwischen zu seinem Bruder, der ebenfalls Schlosser im Bergwerk ist, ins Nachbardorf gezogen. Insgesamt ziehen sich die Widersprüche durch den ganzen Ort. Drei Bewohner des „Mordhauses“ wollen die Kinder am Vormittag des Tattages - gegen 11 Uhr - auf dem zur Siedlung gehörenden großen Spielplatz gesehen haben. Der Gerichtsmediziner Hilgermeier dagegen ist sich vorerst sicher, daß die beiden Mädchen in den frühen Morgenstunden getötet wurden. Nachbarn sagten aus, sie hätten nachts eins der Mädchen weinend auf der Straße gefunden und ins Haus zurückgebracht. Die Siedlungs–Kneipe „Zur Erholung“ hat wegen des ganzen Trubels um den Mord jetzt schon ab mittags geöffnet. An der Theke schimpfen einige Gäste über die schlampige Arbeit der Ermittlungsbehörden. An einem Tisch wird über die Höhe der Schecks der Journalisten gerätselt und wieviel Geld die wohl selbst für ihre Arbeit bekommen? Der Bild– Reporter hat sein logistisches Basislager gleich in dieser Kneipe aufgeschlagen. Von dort aus telefoniert er laufend mit dem Fuldaer Oberstaatsanwalt Matzke und den Bad Hersfelder Rechtsanwälten des Ehepaars Weimar. Die Abendpost Nachtausgabe aus Frankfurt will herausbekommen haben, daß Staranwalt Bossi „für 50.000 DM oder Abtretung der Filmrechte“ die Verteidigung des Vaters übernehmen wolle. Auch die Philippstaler Grund– und Hauptschule ignoriert den Mord nicht. Dort steht im Fach Sozialkunde der 6. und 7. Klassen eine Wochenstunde „Mord“ auf dem Unterrichtsplan: Die Schüler müssen Mappen mit allen Zeitungsartikeln anlegen und Gerücht und Wahrheit herausanalysieren. Die beiden Mädchen gingen allerdings noch in den Kindergarten. Dort ist eine kleine Gedenkstätte errichtet worden - dekoriert mit Bildern und Blumen. Nachdem anfangs angenommen worden war, daß die beiden Kinder vom Spielplatz weg gekidnappt worden seien, überdachte die Philippstaler Gemeinde die Sicherheit der Kinder in der Arbeitersiedlung. Sie beschloß dann, die zwei Kilometer entfernte Schulbus–Haltestelle in die Siedlung zu verlegen. Inzwischen schlägt der Behördenstreit weiter hohe Wellen. Gegen den Beschluß des Haftrichters, weder die Mutter noch den Vater festzusetzen, reichten Oberstaatsanwalt Matzke und sein untergebener Staatsanwalt in Bad Hersfeld, Sauter, umgehend Beschwerde ein. Das Gericht in Fulda entschied jedoch in der vergangenen Woche, diese Beschwerde abzulehnen. Matzke hatte vorher in Interviews mehrmals erklärt, er sei der Meinung, der Fall sei „kriminalistisch gelaufen“. Es fehle jetzt „nur noch“ der „justizförmliche Nachweis“ der Schuld des Vaters. Der Spiegel schrieb dazu verärgert: „Als käme es im Rechtsstaat nicht ausschließlich auf eben diesen Nachweis an.“ Matzke werden auch in anderen Fällen schwere Pannen, Fehler und Schlampereien nachgesagt. Im nahegelegenen Volkhartshain brachte er einen Tischler vor Gericht, der drei Frauen ermordet haben soll. Dessen Unschuld sei, sagen Prozeßbeobachter und Juristen, inzwischen so gut wie erwiesen. Auch dort vertrat er die Anklage mit ungebrochener Überzeugung. Dennoch ließ er den Volkartshain–Prozeß anfang des Monats kurz unterbrechen, um der Bild–Zeitung ein schnelles Interview zu geben, in dem er den Ablauf des Dramas von Philippstal so enthüllte: „Carola (5) sah die Schwester sterben, dann war sie selbst dran!“ Als die Nachbarn das Kind nachts ins Haus zurück brachten (...die Mutter war bei ihrem amerikanischen Geliebten...), hielt sich „vermutlich der Vater im Schlafzimmer versteckt.“ Er habe dann seine Tochter „mit einem Kissen“ erstickt. Das andere Mädchen habe er schon vorher umgebracht. Viele Beobachter der letzten Wochen meinen, daß Oberstaatsanwalt Matzke unter Erfolgszwang stehe und deshalb seine Theorien zum Tathergang als gesicherte Erkenntnisse ausgebe. Der Gießener Anzeiger vermutet dagegen, daß auch Matzkes Bad Hersfelder Kollege Sauter „offensichtlich Karriere–Chancen“ wittere.