Kein Raven, dafür RumlümmeLn auf dem Boden im LotOssitz beim Festival Berlin Atonal: Hippies in Schwarz
Ausgehen und Rumstehen
von Andreas Hartmann
Schwarz zu tragen, das war einmal eine Aussage. Schwarz, das war die Farbe der Goths, Grufties und Industrial-Hörer. Aktuell ist es jedoch die Modefarbe der Saison. Der Hipster von heute trägt Schwarz, und ins Berghain scheint man nur noch hineinzukommen, wenn man auf jedweden Farbklecks bei der Klamottenwahl verzichtet. Beim Atonal-Festival an diesem Wochenende, einer Leistungsschau der elektronischen Musik unter besonderer Berücksichtigung ihrer Wurzeln im Industrial, zu der auch bereits in den frühen Achtzigern aktive Vertreter der schwarzen Szene geladen waren, konnte man deshalb ein echtes Szenepublikum überhaupt nicht mehr von den Trainspottern unterscheiden. Zumindest rein äußerlich nicht. Waren ja alle in Schwarz beim Atonal.
Schwarz als Sichtbarmachung einer inneren Einstellung, das funktioniert also nicht mehr. Aber auch andere subkulturelle Regeln und Codes scheinen sich in Auflösung zu befinden, wie der Festivalbesuch zeigte. Beim Konzert des Künstlers und Violinisten Tony Conrad und seiner Begleitband Faust war es noch einigermaßen nachvollziehbar, dass sich massenhaft Leute aus dem Publikum auf den Boden setzten und auch dann nicht wieder aufstanden, als es auf der Bühne ansatzweise rockig wurde. Faust sind schließlich altehrwürdige LSD-Hippies, und bei den Hippies gehörte das Rumlungern auf dem Boden während eines bewusstseinserweiternden Konzerts einfach zum guten Ton.
Aber im Laufe des Atonal-Festivals stellte man dann bald fest: Es wurde ausgiebig, massenhaft und zu jeder Gelegenheit auf dem Boden des Kraftwerks an der Köpenicker Straße campiert. Manche legten sich sogar hin oder verharrten in kompliziert anmutenden Yogapositionen. Auch während der Konzerte. Man stellt sich im wortwörtlichen Sinne heute also anscheinend nicht mehr herausfordernden Klängen, sondern lässt sie einfach im Lotossitz über sich ergehen. Dabei ergab der Selbstversuch: Der Boden der Konzerthalle ist eigentlich furchtbar hart und unbequem.
Lustmord à la Kirsten Dunst
Da hauptsächlich wenig performative Laptopmusik beim Atonal geboten wurde, übernahm damit interessanterweise das Dauersitzpublikum das Performative. Bei Lustmord mit seinen apokalyptischen Sounds und Visuals, von entflammten Planeten etwa, ähnelten die Bodensitzer Kirsten Dunst in Lars van Triers „Melancholia“, die sich voller Erwartung dem Ende der Erde hingibt. Lustmord muss somit wirklich das Gefühl gehabt haben, von seinem Publikum verstanden worden zu sein.
Der als ernsthafte Angelegenheit bekannten Avantgarde begegnete man beim Atonal also mit ungeahnter Lockerheit und Entspanntheit. Das Detroit Zen Center, das vor der Konzerthalle sein Zen-Zelt aufgebaut hatte, wirkte wie ein Bekenntnis zur Selbstironie. Beim Atonal und dem Club Tresor denkt eigentlich jeder an die vielbeschworene Berlin-Detroit-Techno-Achse und elektronische Tanzmusik als Waffe. Und plötzlich steht da mitten im Vorgarten von Tresor und Kraftwerk ausgerechnet eine Teestube aus Detroit, in der Goji-Beeren verkauft werden.
Ganz in deren Nähe standen wir gerade herum und überlegten, ob wir auch mal eine Runde meditieren sollten, als einer aus unserer Runde meinte: „Schaut, Blixa Bargeld!“ Er zeigte auf einen grau melierten Herrn mit auffälligem Ringelshirt. Vielleicht war er es ja auch. Das Atonal hat jedenfalls so viele Gewissheiten entkräftet, da konnte man sich plötzlich auch Blixa Bargeld ohne schwarz gefärbtes Haupthaar und im Ringelshirt vorstellen.
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