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Kein Narr in Stalins Stück

■ Jack Garfein inszenierte „Stalin“ von Gaston Salvatore / Endlich Theater nach all dem Theater

Es war das erste Stück, in dem es tatsächlich um das ging, was am Bremer Schauspielhaus als Thema der Trilogie der großen politischen Töter des 20. Jahrhunderts angekündigt war. Die Inszenierungen von „Liebe und Anarchie“ und „Arturo Ui“ machten die Faschisten zu Brutalinskis und Terroristen aus individuellem Defekt. Im Falle des „Ui“ durch Aufpfropfen auf ein Stück, das den Terror von seiner ökonomisch-historischen Funktion her begreifen will. Der „Stalin“ Gaston Salvatores, Sonntag im Schauspielhaus der öffentlichkeit übergeben, ist das erste Stück, das nach der Herkunft des Terrors aus der Psyche seines Initiators, Stalin, fragt. Einer Psyche, die als Ursache und Folge eines bestimmten historischen Herrschaftssystems gezeigt wird, der bolschewistischen Diktatur der Partei und der Geheimpolizei.

Die Inszenierung Jack Garfeins ist auch die erste, die ihr Thema nicht durch Mätzchen und schwül-reißerisches Aufmotzen quasi andickt und verfehlt. Sie nimmt die Sprache und die Situation zwischen zwei Spielern ernst. Sie schlägt Spannung daraus und nicht aus appliziertem Beiwerk. Für viele Bremer TheatergängerInnen hatte das Warten auf echtes Theater nach all dem Theater zu lange gedauert. Etliche Plätze, diesmal bis in die ersten Reihen hinein, blieben bei der Premiere leer. Die Bravos der verbliebenen Zuschauer für die beiden Hauptdarsteller und vor

allem den Regisseur kündeten nicht nur von dem, was zu sehen gewesen war, sondern auch von dem, was bisher fehlte.

Stalin, der alten Diktator, läßt sich - ein Jahr vor seiner Entmachtung 1953 - den alten Schauspieler holen, der am Moskauer Künstlertheater Shakespeares „König Lear“ spielt, Itsik Sager, einen Juden. Stalin läßt den Schauspieler vom Ende der Vorstellung weg in seine Datscha holen, Kunzewo vor Moskau, Tag und Nacht bewacht von 1200 Mann. Die sieht man nicht. Man sieht nur die Richtstrahler von außen auf das Zimmer gerichtet, die gleichermaßen das Zimmer des Diktators vor einer Welt von Feinden isolieren und bewachen, aber auch ihren Insassen selber. Das Zimmer hat sich Stalin fünfmal identisch bauen lassen. Das Bühnenbild Manfred Breitenfellners zeigt ihn zwischen dem Kachelofen für seinen schmerzgeplagten Rücken, Akten, Kinderfotos, abblätternden Wänden, plüschigem Sessel. In drei Aufzügen immer im gleichen Zimmer. Daß das jedesmal ein anderes ist, zeigt nur die Veränderung des offenen Balkons in der Bühnenmitte, über den im ersten Bild noch hin und wieder der Nachtvogel zu hören ist, bis zur Stahltür mit Sichtfensterchen zum Schluß. Im letzten Akt empfängt Stalin seinen Gast, indem er wie sein eigener Gefängniswärter durch das Fensterchen in seine eigene Zelle starrt. Feinarbeit. In seine Isolationshaft hat sich der alte Diktator, der seine

Macht von einem Kosmos von danach Gierigen bedroht sieht, den Juden bestellt, den Schauspieler, damit er ihm die Wahrheit sagt. Die sonst durch die Wand von Heuchelei nicht mehr dringt, mit dem Stalins Umgebung versucht, seinem Verdächten zu entgehen und dem Weg der Millionen Opfer, die sie kosten.

„Wenn Du lügst, Bursch, so werden wir dich peitschen lassen.“ Stalin empfängt den Schauspieler, indem er selber in die Rolle des verwirrten alten Herrschers Lears schlüpft, verwelktes Laub im Haar. Der Jude soll ihm den Narren aus dem Lear spielen, der die Wahrheit sagen muß und der bittet, „daß man ihn lügen lerne.“ Über die Spiegelung der historischen Figur Stalin auf der fiktionalen Ebene von Lear und Narr entrinnt Salvatores großartiges Stück dem Historienschinken mit seinen Peinlichkeiten und gewinnt Klarheit durch Unterschied.

Denn Stalin ändert Shakespeares Stück, wie der Schauspieler schnell entsetzt erkennt. Für Stalin wird der Narr, als er endlich die Wahrheit spricht - denn Stalin hat seinen Sohn verhaften lassen und er hat nichts mehr zu verlieren - Teil einer neuerlichen Verschwörung, der zionistischen. In Stalins „Lear“ gibt es keine Narren, nur mehr oder minder versteckte Feinde, vor denen Stalin sich durch deren Ausrottung schützt. Roland Holz als Stalin und Fried Gärtner als Itsik Sager spielten ein Pas de deux, dessen grausliche Spannung hier aus Platzgründen nur zu behaupten, aber nicht zu beschreiben ist. Was dem noch fehlte, war Roland Holz‘ Fähigkeit, über seinem bauernschlauen, unverschämten Stalin die Paranoia wirklich zusammenschlagen zu lassen. Die Angst vor dem Verlust von Macht Leben, die sich als aller Opfer sieht, und deshalb alle zu Opfern macht.

Uta Stolle

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