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Kein Jubel über Polenwahl

■ Die Stimmung unter den Händlern auf dem Polenmarkt über den Solidarnosc-Sieg ist eher zurückhaltend

Nachmittagsgeschäft auf dem ständigen Polenmarkt zwischen Philharmonie, Nationalgalerie und Staatsbibliothek. An den Rändern schleppender Abverkauf von Schraubenschlüsselset bis Teppichklopfer. Zuhause in Polen, so melden die Zeitungen, hat das Bürgerkommittee der Solidarnosc einen haushohen Sieg bei den Wahlen zu Sejm und Senat eingefahren. Doch hier auf dem Parkplatz zwischen den Skulpturenstümpfen tanzt niemand vor Freude, fließt kein Krimsekt, hier wird emotionslos gefeilscht wie immer. Hoffnung auf Veränderung, Fehlanzeige. Auch die zwei alten Männer vom Dorf haben für Solidarnosc gestimmt. Ein wenig Hoffnung haben sie, sagen sie und lächeln fatalistisch. Marek, 25, Student aus Stettin und Modeschmuckschmuggler von Polen in die DDR, übersetzt: 40 Jahre Lüge kann eine Wahl nicht ändern. Sein Kommilitone sagt's gleich auf deutsch: Realistischer Sozialismus macht doof, rechtfertigt er zynisch sein Desinteresse. Politik? Als Philosophiestudent bitte nicht mehr. Das Prinzip der Politik ist die Lüge. Schon zwei Mal hier in Berlin war das Ehepaar aus Lodz. Sie haben nur gewählt, um die Kandidaten der Kommunistischen Partei von der Wahlliste zu streichen. Auch wenn sie bei Solidarnosc ein Programm vermissen: Es kann nur besser werden. Natürlich habe er gewählt, sagt der 26jährige Mechaniker. Die Partei hat Polen zerstört. Wenn Du nicht wählst, wählst Du die Partei. Er war schon acht Mal in Berlin. Die haben mich hierher getrieben. In seiner Woiwodschaft werden Mechaniker ausgebildet, kriegen aber keinen Job. Seine Händlerkollegin von nebenan sagt: Das wird langsam gehen, eine Evolution. Eine Entscheidung des Volkes seien diese Wahlen noch nicht gewesen. Sie setzt auf die nächsten Wahlen in vier Jahren. Strahlen vor Perestroikafieber tut niemand. Schließlich stehen sie nicht aus Spaß hier. Wenn es in Polen besser wird, kommen wir nicht mehr hierher. Zuhause ist es schöner.

Kotte

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