Kaum noch Zeit für die eigene Forschung: Die neuen Lehrsklaven
Auf die Rekordzahl an Studierenden haben die Unis eine zweifelhafte Antwort parat. Sie heuern junge Mitarbeiter an, die viel lehren und schnell gefeuert werden können.
BERLIN taz | Der Job macht ihm Spaß, auch mit dem Geld kommt seine vierköpfige Familie zurecht. Abschreckend ist nur das Drumherum. Denn die Uhr tickt. Drei Jahre hat er noch Zeit, dann ist Michael Berls promovierter Soziologe. Oder draußen. Schließt er seine Doktorarbeit innerhalb der vorgeschriebenen Frist von sechs Jahren nicht ab, darf er an keiner bundesdeutschen Universität mehr als Hochschullehrer tätig sein.
Die Zeit arbeitet gegen ihn. Berls, 36, ist als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Fachbereich für Soziologie der Universität Gießen eingestellt. Fünf Lehrveranstaltungen betreut er jede Woche, 50 bis 60 Studierende sitzen dann vor ihm.
Die sechs Stunden täglich, für die er bezahlt wird, seien damit mehr als ausgelastet, erzählt Berls. Die Promotion, die er braucht, um weiter an der Uni zu arbeiten, schreibt er in seiner Freizeit.
Menschen wie Michael Berls sind die Maschinisten der Hochschulen, sie schuften für die Lehre und halten so den Betrieb aufrecht.
Ein riesiger Studentenberg
Bundesweit wächst die Zahl der Studierenden, bedingt durch steigende Studierfreude, die zeitweise Verdopplung der Abiturjahrgänge und die ausgesetzte Wehrpflicht. Mehr als eine halbe Million Studienanfänger immatrikulierten sich im Herbst.
Bund und Länder stellen den Hochschulen auf Basis eines gemeinsamen Hochschulpakts Milliarden zur Verfügung, damit sie den Studentenberg bewältigen.
Und die Hochschulen stellen mit den öffentlichen Finanzspritzen vor allem solche Leute ein, die viele Lehrveranstaltungen übernehmen, und die sie schnell wieder loswerden, wenn der Studierendenansturm demografisch bedingt wieder abflaut. An den Unis spricht man von den "neuen Lehrsklaven."
Die Universität Gießen hat mit den Hochschulpaktmillionen 22 neue Stellen geschaffen. Alle auf Zeit. Das gleiche Bild in Köln. "Ohne die ganzen befristeten Stellen könnte der Lehrbetrieb gar nicht aufrechtgehalten werden", sagt Ulrich Preis vom Hochschulrat der Kölner Universität.
Es wird noch härter
"Die Konkurrenz wächst, die Leute sind bereit, härter zu arbeiten und mehr in Kauf zu nehmen", berichtet Matthias Neiß, Funktionär bei der Gewerkschaft Verdi, die eine Kampagne für bessere Arbeitsbedingungen an den Universitäten gestartet hat.
Für Nachwuchswissenschaftler sei es in den letzten Jahren zwar leichter geworden, eine Stelle im Hochschulsystem zu bekommen, sagt Neiß. Doch ihre Chancen, durch den akademischen Flaschenhals nach oben auf eine sichere Professur zu gelangen, hätten sich verschlechtert.
Der Anteil der Professuren, also jener Stellen, die Freiräume für Forschung und Lehre ermöglichen, schrumpft sogar, während die derzeit größte Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeiter jedes Jahr wächst.
Eine deutliche Mehrheit von ihnen, 84 Prozent, hat nur befristete Verträge, mehr als die Hälfte sind auf nicht einmal ein Jahr begrenzt.
Ein Zeitvertrag nach dem anderen
Die Hochschulen stocken ihr Personal nämlich bevorzugt auf Basis eines Gesetzes auf, das es ihnen erlaubt, ihren wissenschaftlichen Nachwuchs zwölf Jahre lang befristet zu beschäftigen und diese Praxis auch danach aufrechtzuerhalten, wenn die Stelle durch Projektgelder - sogenannte Drittmittel - finanziert wird.
Seit er seinen Job 2009 antrat, hatte Berls bereits drei Zeitverträge, den letzten bekam er fünf Tage vor Vertragsende.
Die Hochschulen machen keinen Hehl daraus, dass sie mit immer mehr "Stellenschnipseln" arbeiten. "Stellen werden nicht nur zeitlich begrenzt, sondern auch unter mehreren Leuten aufgeteilt", so Ursula Nelles, Rektorin der Uni Münster.
Die Unis fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Denn die Länder knausern bei der Grundfinanzierung, aus der die Unis ihre Hochschullehrer zu bezahlen pflegen. So ist auch die Zahl der Lehrbeauftragten seit Mitte des Jahrtausends um 35 Prozent gestiegen.
Erst gratis, jetzt billig
In der Unihierarchie rangieren sie ganz unten. Eigentlich sind solche Stellen für Leute gedacht, die einen festen Job haben und ihr Praxiswissen ehrenamtlich an Studierende weitergeben. Jetzt werden sie zunehmend mit Menschen besetzt, die hauptberuflich für die Uni arbeiten – aber nicht davon leben können.
In Berlin allerdings müssen die bisherigen Gratisdozenten nach einem neuen Landesgesetz nun auskömmlich bezahlt werden. Das bringt die Freie Universität in finanzielle Nöte.
Im neuen Semester könne nur etwa die Hälfte der notwendigen Lehraufträge bezahlt werden, erklärt Tanja Börzel, Leiterin des Otto-Suhr-Instituts. Mit dem Stammpersonal sei die vorgeschriebene Anzahl der Lehrveranstaltungen nicht zu leisten, führt sie aus. Deshalb die vielen Lehrbeauftragten in der Vergangenheit.
"Das ist ein Missbrauch dieses Instrument, es ist unanständig, wie man mit den Leuten umgeht", kritisiert der Hochschulexperte der Bildungsgewerkschaft GEW, Andreas Keller. Auch die Politik nimmt den Ball auf. SPD, Grüne und Linkspartei wollen eine Mindestlaufzeit für Zeitverträge gesetzlich festlegen, selbst die Union arbeitet an Verbesserungsvorschlägen, die sie im Frühjahr in den Bundestag einbringen will.
Lieber arbeitslos
"Aus Vollzeitstellen werden ohne Not Halbzeitstellen gemacht. Es geht darum, die schlimmsten Auswüchse ein Stück weit zu begrenzen", sagt der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Bildung, Albert Rupprecht.
Am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin versucht man nun, Doktoranden und Drittmittelbeschäftigte stärker in die Lehre einzubinden. Und an der Uni Gießen hat eine Kollegin von Berls bereits gekündigt, eine weitere will zum kommenden Semester ausscheiden.
Beide wollen sich auf ihre Promotion konzentrieren, berichtet Berls: "Lieber arbeitslos, aber dafür promoviert." Mit vergleichsweise guten Karriereaussichten – außerhalb der Uni.
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