Katrin Seddig Zu verschenken: Ein schöner Abend, Ungerechtigkeiten und Spuren von Glück
Es ist Mitte Juni, und am Morgen flimmert das Licht auf dem Beton. Am Abend haben die Menschen nackte Beine und Arme, und diese nackten Arme und Beine sind so schön. Ich denke: Sieh nicht so hin, man starrt nicht auf die Nacktheit anderer Menschen! Aber diese ganze Haut kommt mir plötzlich so schön vor. Und ich denke: Warum ist mir das sonst nicht aufgefallen? Warum ist es manchmal ganz anders, warum ist an manchen Tagen die Haut der Menschen so mangelhaft, so hässlich? Liegt es vielleicht daran, dass diese Haut, die ich jetzt gerade überall sehe, jung ist?
Aber dann sehe ich eine alte Frau, und auch ihre alte Haut kommt mir so schön vor. Es gibt nur schöne Haut an diesem Abend. Es ist ein Ereignis, einfach ein Ereignis.
Später komme ich aus dem Theater, es ist gegen halb elf und immer noch nicht dunkel, die Luft immer noch warm, und plötzlich weiß ich, jetzt ist es Sommer. Das ist jetzt der Anfang. Die Stadt ist ein Wohnzimmer, die Türen stehen auf, alle gehen raus und finden sich draußen zusammen.
Dieser einigermaßen romantische und mein Herz öffnende Gedanke wird, wenn auch nicht entkräftet, so doch anders eingefärbt, als ich zur Bushaltestelle Gerhart-Hauptmann-Platz laufe. Überall hocken Menschen, die sich für die Nacht niedergelassen haben. Sie sitzen auf den Bänken zusammen, kauern in den Eingängen, manche liegen auch schon ausgestreckt, es sind viele und die Stimmung ist aufgekratzt. Einige haben Flaschen und Essen, sie unterhalten sich, lachen, Musik ertönt aus verschiedenen Quellen. Ein Mann hockt rhythmisch nickend auf dem Bürgersteig neben seinem Kassettenrekorder (Er hat doch tatsächlich einen richtigen Kassettenrekorder dabei, als wäre es 1987) und ich schäme mich, in seinem Wohnzimmer herumzulaufen.
Wie schön diese Nacht ist, denke ich und schäme mich jetzt auch noch dieses Gedankens, weil die ganzen Menschen offenbar kein anderes Zuhause haben als dieses hier. Manche feiern zusammen eine Party, der Kassettenrekordermann feiert allein mit sich selbst. Alles scheint von innen, aus sich heraus, zu leuchten, es ist das magische Licht der Dämmerung, bevor die Nacht sich herabsenkt. Wärme steigt von der Straße auf, die Häuserwände sind Zimmerwände eines großen, intimen Raumes, ein Eindringling bin ich.
Auf der Bank im Bushäuschen schläft ein Mann im Sitzen an die Wand gelehnt, sein Körper bewegt sich im Rhythmus seines Atems. Ich denke: Wie kann die Nacht schön sein, wenn man kein Zuhause hat? Ich denke: Wie kann die Schönheit der Nacht von einem Zuhause abhängen? Ich denke, auch für diese Menschen ist die Nacht schön, denn die Schönheit verteilt sich gleichmäßig auf alle und alles. Ist das wahr?
Gerade habe ich im Theater einen Text über Schnecken vorgelesen, einen Text, den ich selber geschrieben habe. Ich bin noch immer mit den Schnecken beschäftigt. Ich habe mich in diesem Text gefragt, ob Schnecken glücklich sein können und, wenn ja, was für ein Glück das sein soll. Ich nehme an, dass sie glücklich sind, indem sie sind. Wir, als Menschen, können das nicht. (Wirklich nicht? Vielleicht passiert Glück gerade? Vielleicht hier, auf der Mönckebergstraße?) Wir glauben, wir könnten vielleicht glücklich sein, wenn irgendwelche Voraussetzungen erfüllt wären. Und dann haut es doch nicht hin.
Der schöne Abend, und dann werde ich traurig. Die ganzen Ungerechtigkeiten und die Schnecken, es vermischt sich alles, in meinem Bus nach Hause, Unsicherheit, Angst und Spuren von Glück.
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