Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Was Merkel nicht wusste
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.
Anfang Februar lief ich Montag Abend zur U-Bahn am Jungfernstieg. Da kamen mir ein paar Leute mit selbstgemalten Schildern entgegen. „Merkel muss weg.“ Es gab noch ein paar andere Schilder, teilweise mit Rechtschreibfehlern. Es waren wirklich nur sehr wenig Leute, es interessierte kaum jemanden, ich war fast amüsiert.
Aha, denke ich, es geht der Frau Ogilvie nahe, dass es mit Deutschland bergab geht. Aber welches bergab meint Frau Ogilvie? Wirtschaftlich geht es nicht bergab. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in 2017 um 2,2 Prozent, das soll doch das stärkste Wachstum seit 2011 sein. Niedrige Zinsen, Konjunktur, nur die Arbeitskräfte sollen den Deutschen langsam ausgehen. Vielleicht meint Frau Ogilvie ein anderes bergab. Man weiß es nicht.
Von Montag zu Montag ging es bergauf, mit der Demonstration und mit der Gegendemonstration. Frau Ogilvie gab das Demonstrieren auf, weil mit einem Farbbeutel ihre Fensterscheibe eingeschmissen wurde. Es folgten andere Anmelderinnen. Es mischten sich verschiedenste Leute unter die Menge. Das Motto blieb: „Merkel muss weg.“
Die Sache mit dem Stromspeicher ging mir nicht aus dem Kopf. Warum gerade dies sie so wütend gemacht haben soll, dass sie eine Demonstration gegen Frau Merkel initiieren wollte. Ich recherchierte auch das, und ich denke, sie meint eine Aussage der Frau Annalena Baerbock, die seit dem 27. Januar 2018 Vorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen ist. Aber – ist das nicht die Opposition? Wenn einen die Aussage einer Politikerin von Bündnis 90 / Die Grüne auf die Straße treibt, was hat das mit Frau Merkel zu tun? Frau Merkel ist ja meines Wissens Mitglied der CDU. Meint Frau Ogilvie, CDU und Grüne, das ist dasselbe? Man weiß auch das nicht. Und es gibt ja noch das Bergab-Argument. Mit Deutschland soll es nicht bergab gehen, es soll stets nur bergauf gehen.
An den Montagen darauf gab es weitere Veranstaltungen. Es wurden mehr Leute. 200, dann 300, und es gab noch sehr viel mehr Gegendemonstranten. Es gab auch mehr Polizei. Es wurden einzelne bekannte Leute gesichtet. Jan Krüger und Maik Heidorn von den Identitären, Ludwig Flocken, zum Beispiel, der im Januar 2018 wegen fremdenfeindlicher Äußerungen aus der AfD ausgeschlossen wurde, oder Thomas Gardlo, der Ex-Bodyguard von Ronald Schill, und einige aus der Neonazi-Szene.
Am letzten Montag nun musste die Merkel-muss-weg-Demo zum Dammtor umziehen. Da kamen dann 350 Leute und 1.000 Gegendemonstranten. Auf einem Transparent einiger Merkel-muss-weg-Demonstranten stand: „Die multikulterelle Gesellschaft ist keine lebensfähige Form des Zusammenlebens“. Das war als Zitat von Merkel gekennzeichnet. Und als eigene Aussage stand darunter: „Lügen haben kurze Beine“. Dieses Transparent fand ich gut, weil auch ich finde, dass die multikulturelle Gesellschaft sehr wohl eine lebensfähige Form des Zusammenlebens ist.
Ich würde aber Frau Merkel deshalb nicht als Lügnerin bezeichnen. Sie hat es nicht besser gewusst. Sie kannte das nicht, von früher, von der DDR her.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen