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Katrin Seddig Fremd und befremdlichWird es in der Zukunft noch mehr Arbeit für die Arbeitenden geben – und noch mehr Arbeitslose?

Katrin Seddig ist Schrift-stellerin mit besonderem Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.

Einem zweiten Job gehen in Schleswig-Holstein immer mehr Menschen nach. Sie müssen das, neben der Vollzeitbeschäftigung, heißt es in einem Bericht des NDR: Sonst können sie sich das Leben nicht leisten.

Vierzig Wochenstunden arbeiten ging ich vor vielen Jahren, im Büro einer großen Versicherung. Einmal, nach Feierabend, besuchte ich meine Freundin in einem Krankenhaus, wo sie ein Baby zur Welt gebracht hatte. Sie gab es mir einfach in den Arm. Ich kann mich ganz genau an diesen Augenblick erinnern, weil ich mich dort, mit diesem frischen Baby im Arm, so schlecht fühlte: ausgelaugt, alt und verbraucht, und das, obwohl ich ziemlich jung war. Ich hatte acht Stunden lang in einem Büro gesessen und Akten bearbeitet. Nichts besonders Anstrengendes, und ich muss sagen, diese Arbeit wurde gut bezahlt: Ich verdiente so viel Geld, dass es sich auf meinem Konto ansammelte.

Nach diesem Tag kündigte ich diesen Job mit der Begründung, ich wolle Künstler werden, was ich nicht wurde. Ich hatte überhaupt keinen Plan. Ich habe in meinem Leben auch schon mehr als vierzig Stunden pro Woche gearbeitet, zum Beispiel, als ich ein Jahr in der Landwirtschaft gearbeitet habe, in der Ernte, da musste ich vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein arbeiten, von Montag bis Sonntag. Da war ich erschöpft, aber ich habe mich nicht so gefühlt wie an diesem Tag in diesem Krankenhaus. Nicht so alt und leer.

Die Arbeit ist hier und heute verteilt wie das Geld. Manche Menschen arbeiten sehr viel, andere Menschen arbeiten gar nicht. Manche Menschen möchten gern arbeiten, sie bemühen sich, aber sie bekommen keine Arbeit. Andere Menschen möchten weniger arbeiten, sie verdienen viel Geld, und sie könnten mit weniger Arbeit und weniger Geld auskommen, aber aus irgendwelchen Gründen scheint es ihnen nicht möglich zu sein, weniger zu arbeiten, jedenfalls erzählen sie es so. Und dann gibt es anscheinend immer mehr Menschen, die sehr viel arbeiten müssen, um überhaupt leben zu können.

1955 hat der Deutsche Gewerkschaftsbund die Vierzig-Stunden-Woche gefordert, nach und nach führten die Branchen sie ein. 1990 forderten die Gewerkschaften dann die Fünfunddreißig-Stunden-Woche, und auch diese wurde in einigen Branchen eingeführt. Ab Mitte der Neunzigerjahre gab es dann wieder einen Trend zurück zur Vierzigstundenwoche, in Bayern gibt es im Öffentlichen Dienst mittlerweile schon eine Zweiundvierzigstundenwoche.

Den Menschen, die sehr viel arbeiten, ob sie es nun wollen oder müssen, stehen die Menschen gegenüber, die gar nicht arbeiten. Es sind nicht nur unqualifizierte Menschen ohne Arbeit, auch hochqualifizierte sind arbeitslos, und es gibt tatsächlich immer mehr Menschen, die nicht von dem Geld leben können, das sie mit ihrer Arbeit verdienen. Ich habe lange in einer Sozialrechtskanzlei gearbeitet, und da habe ich es sehen können, wie wenig Geld man zum Beispiel in einer Küche verdienen kann – so wenig, dass man zum Leben noch Geld vom Amt zusätzlich braucht.

Dass diese Menschen trotzdem arbeiten gehen, zeigt, dass Menschen arbeiten wollen. Ja: Menschen arbeiten gern. Es tut gut, zur Arbeit zu gehen, etwas zu schaffen, einen Feierabend zu haben. Diese Befriedigung stellt aber nur einen Teil des Antriebs dar. Einen anderen Teil stellt die Anerkennung dar, und diese Anerkennung erfolgt zum Teil durch die Entlohnung. Ein niedrig Entlohnter wird gesellschaftlich weniger anerkannt als ein hoch Entlohnter. Einer, der den ganzen Tag arbeitet, und noch nicht einmal sein eigenes Leben davon bezahlen kann, der fühlt sich nicht geschätzt.

Wie kann ein Arbeitgeber einem Angestellten so wenig zahlen? Wie kann es sein, dass die Menschen, die arbeiten, so viel arbeiten müssen, wenn es doch Menschen gibt, die gar nicht arbeiten, weil sie keine Stelle finden? Wird es in der Zukunft noch längere Arbeitszeiten geben, noch mehr Arbeit für die Arbeitenden – und noch mehr Arbeitslose? Und wo sind die Gewerkschaften, die einst die Arbeitszeitverkürzungen erkämpft haben? Ach was: Wo ist die Solidarität?

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