Karriere einer Russlanddeutschen: Das Fräuleinwunder
Als sie nach Deutschland kam, sprach sie nur Russisch, heute spricht sie Deutsch mit bayerischem Akzent. Marina Webers Weg ähnelt dem vieler Spätaussiedler.
WITTENBERG/WÜRZBURG taz | Auf dem Bahnhof der Lutherstadt Wittenberg steht früh um sieben eine schmale Silhouette im Nebel – dunkle Leggings, dunkle Jacke, dunkler Schopf, die Schultern hochgezogen, die Fingerknöchel weiß. Marina Weber friert.
Die 24-Jährige ist die Nacht hindurch rund 400 Kilometer auf eigene Kosten von Würzburg hierher gefahren, um an einem Gymnasium zu hospitieren. Dessen Direktor wollte sie abholen und ist noch nicht aufgetaucht. Ohne zu warten, greift sie zum Handy und ruft ihn an.
Eine Stunde später sitzt sie in einem Workshop zum Thema „Russlanddeutsche als Zielgruppe von Rechtsextremen“. Das passt zu ihrer politologischen Bachelorarbeit. Den SchülerInnen erklärt sie: „Meine Eltern, mein Bruder und ich sind mit der Eisenbahn aus Kasachstan gekommen.“
„Nach Deutschland, nach Deutschland!“ Seit Anfang der 90er-Jahre alle beteiligten Regierungen eine Übersiedlung ermöglichten, war dies das Motto deutschstämmiger Familien in der ehemaligen UdSSR. Die Sowjetmachthaber hatten die gesamte Volksgruppe der Spionage bezichtigt und in Regionen jenseits des Urals deportiert.
Eine andere Heimat
Nun hofften diese Menschen auf ein Leben in einer anderen Heimat, in der sie sich nützlich machen und dafür Anerkennung finden konnten. So, wie die „Drei Schwestern“ in Anton Tschechows gleichnamigem Theaterstück seit rund hundert Jahren von solch einem Ort mit anderem Namen träumen: „Nach Moskau, nach Moskau!“
Also nach Gemünden. Bei ihrer Ankunft in dem hübschen, vierzig Kilometer von Würzburg entfernten Städtchen war Marina sieben Jahre und kam sofort in die Schule. In Kasachstan hatte sie in dem Dorf Uroschajnoje gelebt, am Rande der Wildnis.
Die Erwachsenen in der Familie sprachen untereinander oft einen altmodischen deutschen Dialekt aus Zeiten Katharinas der Großen. Die Kleinste konnte nur Russisch. In Gemünden lebte die Familie ein paar Jahre lang ärmlicher als vor der Umsiedlung. Die anderen Kinder wollten zuerst nicht mit ihr spielen. „Es lag wohl an meinen Klamotten. Ich trug irgendwelche Sachen von der Caritas.“
Marinas Mutter Anna, heute 48, ist ausgebildete Erzieherin. In Deutschland hatte sie in ihrem geliebten Beruf keine Chance. Sie montiert Metallregale in einer Fabrik. Eine Zeit lang kämpfte sie mit starken Depressionen. Der Vater, gelernter Kraftfahrzeugmechaniker, schiebt hierzulande Schichten als Lagerarbeiter. Er überstand inzwischen zwei Herzinfarkte.
"Übernimm Dich nicht"
Das Mädchen redete nach dem ersten Schuljahr fließend Deutsch mit bayerischem Akzent. Aber zur gegebenen Zeit riet ihr die Klassenlehrerin vom Gymnasium ab: „Übernimm Dich lieber nicht.“ Marina schaffte das Gymnasium – und jobbte in der Oberstufe regelmäßig in einer Eisdiele, um den Eltern nicht auf der Tasche zu liegen.
Seit der neunten Klasse erhielt sie zudem ein Stipendium für begabte Zuwanderer: „Talent im Land Bayern“, 150 Euro pro Monat. Die selbst erlittene Diskriminierung wetzte sie aus, indem sie sich für ungerecht behandelte MitschülerInnen einsetzte. Seit sie 15 war, engagiert sie sich im Verein „Schule ohne Rassismus“.
Im Einklang mit dessen Zielen bietet die Würzburger „Jugendbildungsstätte (Jubi) Unterfranken“ mehrtägige Kurse für Schulklassen oder Pädagogen an: gegen Mobbing, gegen Ausgrenzung von Minderheiten aller Art.
Die Schülerin kam in die Jubi und kehrte immer wieder zurück. Während ihres Studiums jobbte sie hier. Wenn diese Reportage erscheint, hat sie ihren Bachelor in der Tasche und bei der Jubi eine feste Stelle.
Hoffnung auf eine eigene Familie
„Die ganzen Kindheitserinnerungen haben mich gestern nicht einschlafen lassen“, sagt Marina. Sie wärmt gerade von ihrer Mutter eingefrorene Pelmeni auf. Marina ist wieder in Würzburg, in ihrer Zweizimmerwohnung mit Gartenzugang. Die teilt sie sich mit ihrer ur-bundesdeutschen Kommilitonin und besten Freundin Anna, seit zwei Jahren. Damals zog sie aus der WG ihres letzten Freundes aus. Erst in diesem Frühjahr konnte sie sich wieder verlieben.
Ein fester Partner und später eigene Kinder – das gehört für die junge Frau einfach zum Leben. Wie für viele Russlanddeutsche sind ihr die Beziehungen auch zur Großfamilie sehr wichtig. Mit fast dreißig über die Bundesrepublik verstreut lebenden Vettern und Cousinen trifft sie sich noch heute.
Die Studentin greift ein Buch vom Regal: „Jugendliche Spätaussiedlerinnen – Bildungserfolg im Verborgenen“. Die Marburger Soziologin Angela Schmidt-Bernhardt vertritt darin die These: Russlanddeutsche Abiturientinnen seien in der Regel fleißiger und kämen in deutschen Institutionen erfolgreicher voran als alteingesessene Jugendliche.
Die von der Soziologin Interviewten hoben alle hervor, wie sehr ihre Mütter sie dabei unterstützt hatten. Durch ihre Laufbahn rechtfertigten diese Mädchen nachträglich das mütterliche „Ja“ zur Umsiedlung der Familie. Gleichzeitig entschädigten sie ihre Mütter für den Verzicht auf einen eigenen qualifizierten Beruf.
Beruflicher Erfolg ist wichtig
Entweder hatte man hier deren Abschlüsse nicht anerkannt oder ihre Deutschkenntnisse reichten nicht. Doch ohne beruflichen Erfolg ist eine Frau gemäß den Traditionen der ehemaligen Sowjetunion nun mal nicht ideal.
Die Erfolgsgeschichte der russlanddeutschen Abiturientinnen hat dem Buch zufolge auch eine Kehrseite. Da sie sich äußerlich nicht von alteingesessenen Mitschülerinnen unterscheiden, ahnen ihre LehrerInnen nicht, wie sehr sie sich für ihre guten Noten abmühen mussten. Deshalb fühlen sich die Migrantinnen dauernd unzureichend gewürdigt.
Marina hat sich zwar der bundesdeutschen Gesellschaft perfekt angepasst, ist dabei aber in Institutionen aktiv geworden, die ihrerseits übertriebenen Anpassungsdruck gegen Migranten und Minderheiten bekämpfen. Woher bezieht sie ihre Energie?
„Meine Mama ist ein bezaubernder Mensch“, erklärt sie. „So viel nimmt sie auf sich, mit einer Selbstverständlichkeit, die mir manchmal weh tut. Sie hat sich in ihrem Leben aufgerieben, mit Dingen, die keinen Spaß machen. Da mobilisiere ich eben all meine Kraft, um mich später niemals fragen zu müssen: Macht mein Job überhaupt Sinn?“
"Unkraut vergeht nicht!"
Wenn Marinas Mutter in den Anfangsjahren manchmal den Mut verlor, so ermunterte deren eigene Mutter die Familie zum Durchhalten. Ihr Motto: „Unkraut vergeht nicht!“. Die 88-jährige „Oma“ ist für die junge Pädagogin ihr größtes Vorbild. Sie lebt ebenfalls in Gemünden, bei einer Tante. Einst gebar sie neun Kinder und überlebte ein stalinsches Frauenarbeitslager für Russlanddeutsche.
Marina umkreist an einem Frühlingsvormittag in einem lichtdurchfluteten Seminarraum der Jugendbildungsstätte Unterfranken eine Gruppe NeuntklässlerInnen. Auf Zehenspitzen feuert sie sie an, beim Bewegungsspiel zu kooperieren: „Näher! Mehr Feingefühl!“ Am Rande erklärt sie, sie sei „keine Schönwetterpädagogin“. Mit strengen Regeln sei sie selbst aufgewachsen.
Nach und nach machten die Eltern Konzessionen. Nur das politische Engagement ihrer Tochter betrachteten sie wie Hühner, die einer von ihnen ausgebrüteten Jungente beim Schwimmen zuschauen. Besonders befremdlich finden es Vater, Mutter und Großmutter bis heute, wenn Marina sich im Verein „Schule ohne Rassismus“ auch für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzt.
Die junge Pädagogin betrachtet ihre Eltern mit Nachsicht. Schließlich hätten die ihren Entscheidungen immer vertraut, auch wenn sie nicht alle nachvollziehen konnten. Mit mehreren KollegInnen teilt sie sich in der Jubi einen 15 Quadratmeter kleinen, computergespickten Arbeitsraum. Neulich besuchte ihre Mutter sie und konstatierte strahlend: „Du machst Dich aber gut in dem Büro.“
Angekommen
Die junge Pädagogin fühlt sich heute dort angekommen, wo sie hin gehört. Nach dem Abitur finanzierte sie sich selbst eine „halbe Weltreise“, wie sie es nennt: New York, Jamaika, Kanada. „Erst als ich zurück kam, begriff ich, was mir meine Familie bedeutet, und ich habe Deutschland, vor allem Bayern, als meine Heimat empfunden. Ich merkte, dass es mir hier an nichts fehlt.“
Nach dem Arbeitstag lehnt sie sich in einem Zuschauerraum mit 20 Stühlen zurück. Dies ist der Kunstkeller Würzburg, ein ambitioniertes Studententheater. Marina hat hier zuletzt in Anton Tschechows Stück „Onkel Wanja“ die Sonja gespielt. Diese junge Provinzbewohnerin opfert sich jahrelang für die Karriere ihres Vaters in einer fernen Stadt auf und verwaltet gewissenhaft mit ihrem Onkel dessen Gut.
Sonja erkennt am Ende, dass sich für sie an diesem mühsamen Leben nie etwas ändern wird. Ihre alte Amme ermutigt sie durchzuhalten: „Armes Kind, Gott ist gnädig. Ein bisschen Tee aus Lindenblüten oder Himbeerblättern, dann geht’s vorüber.“
Gibt es etwa Gemeinsamkeiten zwischen dieser Frau und der gut vernetzten Marina? Deren Stimme wird rau: „Bei dieser Rolle habe ich erstmals gespürt: für alles, was ich während meines Lebens für andere getan habe, ist wenig Dank zurück gekommen. Und wenig Anerkennung, auch von mir selbst.“
Sich aber selbst zu belohnen, das hat Marina inzwischen gelernt, am liebsten mit Reisen. „Russland steht jetzt bei mir ganz oben auf der Liste“, sagt sie: „Da war ich noch nie.“
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