: Karneval mit Schönberg
Samba-Funken kann er schon mal aus einem Amboss schlagen: Tom Zé ist der Klangexperimentator der brasilianischen Tropicalia-Bewegung. Nun kommt der Musiker für ein Konzert nach Deutschland
VON TOBIAS RAPP
Es dürfte so etwas wie späte Gerechtigkeit gewesen sein. Als David Byrne vor 15 Jahren für sein Weltmusik-Label Luka Bop begann, Compilations mit brasilianischer Musik zusammenzustellen, war es ausgerechnet der vollkommen vergessene Tom Zé, dessen Musik das größte Aufsehen verursachte. „Wie viel Kilo Angst braucht man, um eine Tradition zu machen?“, hatte er in den späten Sechzigern als Zeile in einen seiner Songs eingeflochten. Nun wurde er selbst zum Ahnherrn einer Tradition musikalischen Experimentierens, wenn es auch eine Traditionslinie ist, die zu schaffen und entlang deren sich unbeirrt weiterzubewegen einigen Mut voraussetzt.
Die Mitglieder der brasilianischen Tropicalia-Bewegung, die Byrne in den frühen Neunzigern der Weltöffentlichkeit präsentierte, standen für alles mögliche, aber nicht für das, was man sich gemeinhin unter Weltmusik vorstellt. Mit Traditionen ethnisch reinen Folks hatten sie nichts zu tun. In den späten Sechzigern hatten sie die brasilianische Popmusik revolutioniert, indem sie sie für Einflüsse jedweder Art geöffnet hatten – Ray Charles und die Beatles, Sarte und Godard. „Weder kann ich verleugnen, wo ich lebe, noch vergessen, was ich gelesen habe“, umriss Caetano Veloso das tropicalistische Programm: In einem riesigen Karneval sollte alles verspeist, verdaut und in etwas Urbrasilianisches verändert werden. In seiner Unberechenbarkeit war das sowohl der brasilianischen Linken als auch der Militärregierung äußerst verdächtig. Lange konnten die Tropicalistas deren Druck nicht standhalten, 1969 mussten Veloso und der Sänger Gilberto Gil ins britische Exil gehen.
Tom Zé bewegte sich schon damals knapp unterhalb des Aufmerksamkeitsradars, der seinen Mitstreitern nach ihrer Rückkehr aus dem Exil einigermaßen glanzvolle Karrieren ermöglichte und Gil schließlich den Weg bis in das Amt des Kulturministers unter dem jetzigen Präsidenten Lula da Silva finden ließ.
Zé war der Klangexperimentator der Bewegung und hatte mit Popmusik ohnehin nicht sonderlich viel am Hut. Er war in einem kleinen Dorf im nordbrasilianischen Bahia aufgewachsen, ein Dorf ehemaliger Sklaven, das zur Zeit seiner Kindheit von der Moderne noch völlig unberührt war, in dem die alten Geschichten und Rhythmen von Mund zu Mund und Hand zu Hand weitergegeben wurden. Dieses Erbe wollte Zé mit all dem fusionieren, was er auf der Musikhochschule über Arnold Schönberg und die westliche E-Moderne gelernt hatte.
Zusammen mit der Popsensibilität der anderen Tropicalistas hatte das einen eigenen psychedelischen Charme. In den Siebzigern wurden seine Platten immer experimenteller, Zé begann sich sogar seine Instrumente selbst zu bauen, fing an mit Bohrmaschinen vor Mikrofonen herumzufuchteln und konstruierte mit dem HertZé sogar eine einfache Maschine zum Sampeln von Tönen. Es war sein konsequentes Arbeiten an einem künstlerischen Entwurf, der surreale Lyrik, den Klang von Objets trouvés und die Rhythmen von Nordbrasilien zu verbinden suchte, das ihn sein Publikum erst verlieren ließ und ihm dann aber zu seinem Comeback verhalf.
Der Wiederveröffentlichung seiner Klangexperimente ließ Tom Zé in den Neunzigern noch mehrere Platten folgen, auf denen er seine musikalischen Vorstellungen weiter ausformulierte: von seiner Umarmung des Samplings als genuiner Drittweltpraxis, einer Art musikalischer Taschendieberei bis zu seinem Album „Defeito De Fabricaçao“, das den Eigensinn der Einwohner der Dritten Welt als einen „Fabrikationsdefekt“ feierte.
In seltener Regelmäßigkeit zeigt sich der mittlerweile 68-jährige große Experimentator der brasilianischen Musik auf den Bühnen der nördlichen Hemisphäre. Für eine Amerikatour ließ Zé sich von der Chicagoer Postrockband Tortoise begleiten. Im Overall und mit Schutzbrille stand er bei diesen Auftritten auf der Bühne und schlug Samba-Funken aus einem Amboss.
Heute Abend gibt Tom Zé sein einziges Konzert in Deutschland: In der Volksbühne Berlin