Karneval der Kulturen: Die Einwanderungsgesellschaft und ihr Recht auf Spaß
Zu viele in Berlin verstehen das schönste Fest der Stadt nicht. Schade: Das könnte sein Ende sein.
Es ist Pfingstsonntag, 12 Uhr mittags, die Sonne strahlt, also alles wie immer beim Karneval der Kulturen. Während am Hermannplatz die gelb-weiß gekleideten TänzerInnen der Gruppe Afoxé Loni und ihr Candomblé-Priester wie jedes Jahr am Anfang des Umzugs mit einem religiösen Ritual um Schutz und gutes Gelingen bitten und dahinter 92 weitere Gruppen auf den Beginn der Parade warten, berichtet der örtliche Fernsehsender RBB über die Bemühungen eines pummelig-blonden "Trödelkings", alte Spielzeugautos möglichst teuer zu verkaufen. Später kann der Zuschauer sich dann am Lokalmagazin "Landschleicher" und dem alten deutschen Märchen "Die kluge Bauerntochter" erfreuen.Das war nicht immer so: Erst die kluge deutsche Bauerntochter Dagmar Reim, Intendantin des RBB seit 2003, beschloss, nachdem sie zuerst die interkulturelle und -nationale Hörfunkwelle Radio Multikulti abgeschafft hatte, den Karneval der Kulturen nicht mehr live zu übertragen. Den Live-Stream gibt es seither - wie modern! - im Internet, eine mehrstündige Zusammenfassung des Zugs im RBB-Fernsehen auch noch -von 0.30 bis 4 Uhr.Dem Karneval der Kulturen ergeht es wie vielen Projekten, die mit links- und/oder alternativen Ideen ein möglichst breites Publikum erreichen wollen (und aus wirtschaftlichen Gründen müssen), ganz ähnlich wie Radio Multikulti und auch der taz: Von der einen Seite werden sie als zu systemkonform und angepasst abgelehnt, der anderen bleiben sie als radikalspinnerte Außenseiter unheimlich und unverständlich. Den einen gilt der Karneval als folkloristisch-konsumorientiertes Touristenspektakel ohne tieferen politischen Gehalt, den anderen als laut-buntes Tohuwabohu, das mit dem, sprich: ihrem Alltagsleben in der Stadt nichts zu tun hat - eine Narrenparade, in beiden Fällen.Doch der Karneval ist mehr als das. Er ist mit bis zu einer Million Besuchern pro Jahr - dieses Mal waren es 750.000 - eine Riesensache geworden, das entspannteste Straßenfest Berlins mit der weitaus besten und abwechslungsreichsten Musik und einem Publikum, das mittlerweile auch die deutsche Bevölkerung in ihrer ganzen Vielfalt abbildet: Das Bier aus der Flasche verdrängt den "Caipi", junge männliche Eingeborene in ihren typischen Karo-Bermudas begrüßen Berliner Hula-Tänzerinnen im Festumzug begeistert mit "Jenau so will ick se ham!".Ein Fest also, genau so wie es eine Einwanderungsstadt haben wollen sollte - "weil wir ja alle auch ein Recht auf Spaß haben!", wie Shermin Langhoff, Vorsitzende der Karnevalswettbewerbsjury, sagt. Genau deshalb ist es schade, dass diese Stadt - oder jedenfalls viele in ihr - dieses Fest nicht verstehen: Nicht nur "Bolivianerinnen, also Menschen, die aus Bolivien stammen, sondern auch Berliner" nähmen an einer Gruppe teil, sagt etwa ein RBB-Reporter, und seine Kollegin glaubt: "Der Karneval soll helfen, Ängste vor den Fremden zu überwinden." Na denn - hoffentlich wirkt's.Nein: Der Karneval ist ein in und aus der extrem multikulturellen Kulturszene Berlins entstandenes Fest - und multikulturell ist dabei keineswegs nur auf ethnische Herkunft bezogen. Beim Umzug laufen kolumbianische Schamanen neben Studierenden, die bessere Bildungspolitik fordern, ungarische Schnurrbärte neben Protestlern für mehr Flüchtingsschutz. Für alle ist der Karneval ein Jahreshöhepunkt, auf den sie sich lange vorbereiten und in den sie viel Zeit, Geld und Arbeit investieren. Dass jetzt die Gruppe Afoxé Loni, seit Jahren Anführerin des Umzugs, ankündigt, aus vor allem finanziellen Gründen nicht mehr dabei sein zu wollen, ist ein Armutszeugnis für den Umgang der Stadt mit diesen Kulturen.Sie müssen sich anstrengen, um dabei zu sein, um sich öffentlich zeigen zu dürfen, müssen dankbar sein für die Gelegenheit und nicht fordernd auftreten: Partizipation ja bitte, Wertschätzung auch gerne, aber kümmert euch gefälligst selber drum, wie es dazu kommt. Am frühen Pfingstmontag, dem Tag nach dem Karnevalsumzug, öffnen auf dem Straßenfest rund um den Blücherplatz kurz vor elf Uhr die ersten Stände. Auf vier Bühnen gibt es am letzten Tag des Festes bis zum Abend noch etwa 20 Konzerte, insgesamt haben 95 Bands während des Karnevals gespielt. Der Senat fördert das Fest mit 270.000 Euro pro Jahr. Diese und ein knappe halbe Million zusätzlich eingeworbener Spendengelder gingen überwiegend in die Sperrung und Reinigung der Strecken und Festplätze, erklärt Karnevalsorganisatorin Nadja Mau. Die Gruppen, die im Schnitt 7.000 Euro für Umzugswagen, Kostüme, Proberäume, teils auch für Übernachtungskosten ausgeben, müssen dieses Geld selbst aufbringen."Mit all den anderen Gruppen im Karneval der Kulturen hat Afoxé Loni mit ihrem unbezahlten Engagement für die Bundeshauptstadt Berlin über Jahre eine grandiose kostenlose Imagekampagne geführt und Berlins Ruf als tolerante, weltoffene und friedliche Weltmetropole maßgeblich mit geprägt", schreiben Afoxé Loni in ihrem offenen Brief zum geplanten Karnevalsausstritt. Auch Hotels, Gastronomie, selbst Reiseveranstalter würden vom Karneval profitieren. "Lediglich die eigentlichen Akteure - die migrantischen Einwohner Berlins, die seit Jahren in zigtausenden von ehrenamtlich geleisteten Stunden und mit ihrem eigenen spärlichen Geld das alles ermöglichen - gehen leer aus. Bis heute bekommen sie keinerlei finanzielle Unterstützung durch die Stadt Berlin." Es wäre Zeit, mal darüber zu reden, was mit Wertschätzung eigentlich gemeint ist.
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