Karlsruher Sozialkunde : kommentar von christian semler
Seit der praktischen Durchsetzung von Hartz IV greift die Verunsicherung um sich. In welchem Umfang können künftig noch staatliche Leistungen in Anspruch genommen werden? Wann wird das private Vermögen fällig? Diese Verunsicherung rührt keineswegs daher, dass jetzt „Allvater Staat entzaubert“ und der Wildwuchs der Ansprüche an ihn auf ein vernünftiges, bezahlbares Maß zurückgestutzt wird. Sondern Angst und Sorge speisen sich aus dem Blick auf die schiefe Ebene, deren Endpunkt keineswegs das Arbeitslosengeld II bilden wird. Alles scheint möglich, alles neu interpretierbar. Warum also nicht auch die Verpflichtung einer Tochter, für die Pflege ihrer Mutter mit dem eigenen Hausteil einzustehen, aus dessen zukünftigen Einkünften eigentlich die eigene, schmale Rente aufgebessert werden sollte?
Dem Landgericht Duisburg, das solches Vorgehen für rechtens erachtete, hat jetzt das Bundesverfassungsgericht eine ziemlich rüde Lektion erteilt. In dem Urteil findet sich die bemerkenswerte Begründung, dass sich Städte und Gemeinden zukünftig von jeder Verpflichtung zur Sozialhilfe befreien könnten, wenn dieses Duisburger Urteil Bestand haben sollte. Damit haben die Verfassungsrichter einen scharfen Blick auf das unwegsame Gelände der Rechtsanwendung riskiert.
Mit dem Urteil der Karlsruher wird dem Trial-and-Error-Verfahren der Sozialbehörden, dem Versuch, auszuloten, was an Belastungen möglich ist, wenigstens in diesem Bereich ein Ende gesetzt. Mitnichten haben die Verfassungshüter dabei der Tendenz Vorschub geleistet, den Zusammenhalt der Generationen zu lockern, traditionelle Familienverpflichtungen außer Kraft zu setzen.
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Kindespietät gegenüber den Eltern keine Staatsdoktrin wie in Singapur. Vielmehr gehört es gerade zu den Errungenschaften des Sozialstaats, bedürftige Eltern vom Wohl und Wehe der Familienbande unabhängig zu machen. Und das gilt in beiden Richtungen. Gerade kraft seiner auf allgemeine Regeln zielenden, „bürokratischen“ Funktionsweise wahrt der Sozialstaat Integrität und Würde der Bedürftigen. Noch immer gilt: Der starke Sozialstaat ist für die Schwachen da.