: Kardinal Meisner: „Kultur entartet“
■ Ein Kreuz mit dem Kreuz: Vatikan und Kanzler schelten Karlsruher Urteil als „unverständlich!“
Berlin (taz) – Gottes Stellvertreter auf Erden ließ eingreifen: Der Vatikan kritisierte das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Ergebnis eines „fehlgeleiteten religiösen Pluralismus“. Mit dem Urteil werde „Europa in eine Katastrophe geschickt“, schrieb der L'Osservatore Romano. Und auch Deutschland stand gestern ganz im Zeichen des Kreuzes. Das Urteil der Karlsruher Richter, wonach demnächst wahrscheinlich 35.000 Kruzifixe aus bayerischen Schulstuben entfernt werden, trieb Kleriker und Politiker zu öffentlichen Bekenntnissen.
Der Kreuzzug gegen das Kruzifix inspirierte etwa Kölns Kardinal Joachim Meisner: „Da kann man ja gleich das Rote Kreuz und die Weg- und Bergkreuze abschaffen.“ Mit dem Urteil „entartet die Kultur“, denn Kultur lebe von „Kultus“. Schon die Nationalsozialisten hätten Kreuze aus Schulen verbannt: „Als sie ihr schauriges kreuzloses Werk begannen, stürzten sie die ganze Welt ins Unglück.“ Daß die christlichen Kirchen zwischen 1933 und 1945 mit den braunen Machthabern kollaboriert haben, verschwieg der Kardinal allerdings.
Seine evangelischen Kollegen formulierten ihre Kritik intellektueller: „Historisch gewachsene Ausdrucksformen des religiösen Lebens müssen auch dort ertragen werden, wo sie der eigenen Überzeugung nicht entsprechen.“
Selbst der Kanzler am Wolfgangsee sorgte sich. Höllisch vorsichtig nörgelte Helmut Kohl: „Das Urteil ist für mich unverständlich.“ Das Kreuz stelle doch keine Bedrohung dar, sondern helfe, sich an christlichen Werten zu orientieren.
Diejenigen jedoch, die jetzt schon orientierungslos sind, frohlockten. Sie benutzten das Karlsruher Urteil, um Profil zu gewinnen und outeten sich als überzeugte Atheisten. Zum Beispiel die Julis: Der liberale Nachwuchs will am liebsten den Religionsunterricht abschaffen. Außerdem ermahnte er die Kirchen, Homosexuelle und Geschiedene nicht zu benachteiligen. Geld sparen wollen die Julis auch noch und deshalb die Kirchensteuer abschaffen.
Sowieso müsse man der Kirche ihr „verfassungswidriges Treiben“ verbieten, forderte die SPD-Bundestagsabgeordnete Edith Niehuis. Sie verlangte eine Parlamentsdebatte über Frauenrechte in der Kirche und den Zölibat.
Dabei ist der heilige Zorn vielleicht völlig überflüssig: Denn die Kreuze und Kruzifixe in den bayerischen Schulen können vorerst hängenbleiben. „Wir haben nicht entschieden, daß jetzt alle Kreuze abzuhängen sind“, sagte der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Johann Friedrich Henschel. Dort, wo Eltern, Lehrer und Schüler dies einheitlich wünschten, könnten die Symbole bleiben. Seite 4
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