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Karadžić befiehlt den Massenexodus

■ 50.000 Menschen sollen auf Anordnung des Serbenchefs die serbisch kontrollierten Stadtteile Sarajevos bis Freitag verlassen. Bewegungsfreiheit in Mostar schon nach einer Stunde verletzt: Heckenschützen schossen auf Muslime

Genf (taz) – Zwei Tage nach dem Bosnien-Krisengipfel von Rom haben serbische und kroatische Extremisten die dort getroffenen Vereinbarungen zur Makulatur gemacht. Während in fünf serbischen Stadtteilen Sarajevos gestern mittag die Zwangsevakuierung aller Serben begann, verhinderten kroatische Heckenschützen zur gleichen Zeit in Mostar die völlige Bewegungfreiheit der Bewohner dieser Stadt. Zu dem ebenfalls in Rom vereinbarten Beginn gemischter Polizeipatroullien erschienen weder kroatische Polizisten aus Mostar noch die von Kroatiens Präsident Franjo Tudjman versprochenen 100 Polizisten aus Kroatien. In den fünf Stadtteilen und Vororten Sarajevos, die laut Dayton- Abkommen bis zum 19. März unter die Verwaltung der muslimisch-kroatischen Föderation fallen sollen, lebten bis zur Paraphierung des Abkommens Ende November rund 90.000 Menschen. Nach Angaben westlicher Diplomaten sind seitdem rund 40.000 Serben weggezogen. Für die verbliebenen 50.000 hatte ein direkt dem „Präsidenten der Serbischen Republik“, Radovan Karadžić, unterstehender „Krisenstab für Serbisch-Sarajevo“ in der Nacht zum Dienstag die Zwangsevakuierung bis zum Freitag dieser Woche „angeordnet“. In Rom war vereinbart worden, daß an diesem Freitag in den serbischen Vierteln Sarajevos die ersten internationalen Polizeikräfte und danach auch Polizisten der Föderation stationiert werden. „Wir dürfen nicht erlauben, daß am Freitag auch nur noch ein Serbe in diesem Gebiet lebt“, erklärte der Vorsitzende des „Krisenstabes“, Gojkio Klicković. Laut Klicković wollte man ab Dienstag auch mit der Exhumierung der serbischen Toten und ihrer Umbettung in Gräber in den künftigen Wohnorten der Sarajevo-Serben beginnen.

Laut Evakuierungsbefehl sollen die 50.000 Serben in Srebrenica und andern Städten im Osten und Norden Bosniens angesiedelt werden. Der serbische Bürgermeister des Vorortes Ilidža hatte bereits Anfang Februar scharf kritisiert, daß die Führung in Pale den Massenexodus aller Serben aus Sarajevo vorbereite, „um der internationalen Gemeinschaft eine neue humanitäre Katastrophe zu bescheren“. Vergeblich rief der Bürgermeister damals zum Verbleib aller Serben in Sarajevo und zur vollen Kooperation mit der Ifor und den bosnischen Regierungsbehörden auf.

Wie weit der Evakuierungsbefehl am ersten Tag befolgt wurde, war zunächst unklar. Laut Janowski versuchten die der Führung in Pale ergebenen Behörden und Polizeikräfte „einige hundert verängstigte alte Menschen in Busse zu zwingen, um über das Fernsehen den Eindruck eines Massenexodus zu verbreiten“.

Andreas Zumach Seiten 9 und 10

siehe auch Reportage Seite 11

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