:
Kapitel 3
Unternehmen Dünner Mann
von Elfriede Jelinek
Wer die Wahrheit kennt und sie nicht drückt, der ist verrückt. Zumindest muss man sie ändern, bis sie passt. Wir drücken nicht, wir bilden, also wir machen Bilder, sprach eine Sekretärin, die mit einem Stapel Endlospapier vorbeieilte, zu niemandem Bestimmten. Wem wollen wir helfen, wen überzeugen, sagte Becker. Aber es kann keiner helfen. Große Volksmengen, die endlich auf den richtigen Dreh gekommen waren, darunter viel Jugend in Sportkleidung, die Frauen recht schick, feierten derweil in den Straßen südosteuropäischer Städte. Becker warf einen Blick in den Fernseher, der ohne Ton lief, dann noch mehr Blicke, weitere sollten folgen. In der Wirklichkeit draußen schienen interessante, umstürzlerische Dinge vorzugehen. Was machen wir draus? Gerade kochte der Bildschirm wieder einmal los, überschäumend vor lauter aufgerissenen Mündern, gereckten Armen; ein hübsches blondes Mädchen mit langem Haar hatte sich einen Soldatenhelm aufgesetzt und schlenderte, Arm in Arm mit dessen ursprünglichem Besitzer, dahin. Es endete anschließend, wie es immer endet, mit Rockkonzerten, Tanz und Besäufnissen. Das Volk jubelte, das Volk feierte, was es ja immer gern tut, mit oder ohne Grund. Es ist ein verschlafener See, dem ständig das eigene Wasser entkommt.
Ein kleiner schmaler Mann trat plötzlich ins Zimmer wie in ein Schulzimmer. Er sah aus wie ein Schüler, sein Papier hatte er selber mitgebracht, in einem Aluköfferchen. In der Schule des Lebens musste er es nicht abliefern, die hat ihr eigenes Papier. Die Neigung der Maskenbildnerinnen, jeden schön zu machen, der ihnen begegnete, verwandelte sich bei Anblick des schmalen Mannes in Abneigung. Was sollten sie mit ihm anstellen? Der kleine Mann sagte seinen Namen nicht, aber er behauptete, er habe die Antwort auf viele Fragen, er habe zwar nicht die richtigen Fragen, jedoch die richtigen Antworten, hier im Aktenkoffer. Auch Verschüttetes aus der Vergangenheit habe er eifrig ausgegraben, jahrelang, es sei jetzt gerade schmutzig genug, um einem Fernsehpublikum zugemutet zu werden, das glaubt, die Menschen sollten in Käfigen leben, damit man immer genau sehen kann, was sie machen. Eine Frage, die dem Mann niemand gestellt hatte, die er aber trotzdem beantwortet haben wollte, lautete: Wieso ist vor fünfzehn Jahren dieser Spitzenmanager der damals noch verstaatlichten Industrie (wir wissen: im Osten ist der Himmel offen, damit man sieht, wo die Sonne aufgeht und sie vom Horizont wieder entfernen kann, bis auch sie Eintritt nach Europa bezahlt hat) auf einem Rastplatz an der Autobahn vergiftet worden? Und zwar so, dass es wie ein Herzinfarkt aussah? Was war mit diesen verbotenen Waffenlieferungen nach Nahost? Wieso fahren in den Bürgerkriegen dauernd diese kleinen wendigen Steyr-Panzer in den kleinen wendigen Gassen gefährlicher Städte herum und können vom aufgebrachten Volk nicht erwischt werden, weil das Volk zu Fuß gehen muss? Sie sollten doch dort eigentlich nicht sein, die Panzer, denn sie dürften niemals exportiert werden, ähnlich dem Leoparden, der aber auch bald in sein neues Gehege wird dürfen, zumindest um es auszuprobieren, wir können es kaum erwarten. Der schmale Mann hatte in der Aufregung den Akzent seines südöstlichen Landes noch verschärft. Er musste seine Geschichte erzählen. Vielleicht würde ein wenig Exotik ihm helfen, sich in Deutschland besser zu verkaufen. Das glaubt nun wirklich niemand. Mein Land hat an einer Co-Produktion mit Ihrem Sender größtes Interesse, weil das Land zu klein ist, um irgendetwas selber produzieren zu können, egal was, und weil uns immer andere sagen müssen, wo's langgeht und wen wir wählen dürfen, denn wir finden vor lauter Bergen oft den Weg nicht mehr. Jaja, dauernd auf der Suche, sich irgendwo dranzuhängen. Erst hinterher schauen, wo wir angekommen sind, wenn der Zug schon lange fährt. Das kennen wir! Das südöstliche Land habe keine Menschen, die sich fürs Fernsehn in Container sperren lassen würden, nein, Moment, ich sehe, es hat sie doch. Die Leute sind aber nicht sehr interessant, deswegen müssen wir ja Ausländer in die Container hineintun, am besten noch am Flughafen, wenn die Leute grade erst angekommen sind und noch nicht sagen können, wie es ihnen bei uns gefällt. Sie werden uns aber schon noch kennen lernen, sagte der kleine dünne Mann zur Maskenbildnerin, die ihn fasziniert zu verfolgen schien. So ein Gesicht hatte sie noch nie gesehen. Aber auch die Leute bei uns wollen fernsehen, sprach der Mann noch, wie zu sich selbst, es sträubten sich ihm eine Weile die Haare bei dieser Vorstellung, denn die Menschen bei ihm zu Hause schienen zu handeln, als wären sie ohnedies die ganze Zeit im Fernsehen. Man sieht sie, aber was sie in Wirklichkeit machen, das sieht man nicht. Wie bei dem dicken weltberühmten Politiker, nein, dem anderen, früheren. Sogar die Bösewichte dort in der Ferne sind so klein, dass sie im Ganzen in den Apparat hineingehen, sozusagen in ihrer natürlichen Größe, also sie sind halt einfach nicht sehr groß, plustern sich aber gerne auf. Das wollte ich damit sagen.
Zu Mitterrand hätte ich auch etwas anzumerken, eine Fußnote der Geschichte, sprach der schmale Mann etwas besserwisserisch, er sprach zu van Becker und Vigant, welche mit Pappbechern voll Kaffee herangetreten waren und sofort auf ihn herabsahen. Die beiden kamen dem kleinen Mann recht weltstädtisch vor, als hätten sie immer schon in einer Hauptstadt gelebt und nicht erst die letzen zehn Jahre, davon allein fünf in der Hauptstadt Baden-Württembergs. Ich kenne Herrn Mitterrand auch persönlich, aber uns hat er nichts angeboten, kein Benzin, kein gar nichts, und wir hatten ihm nichts anzubieten als fünfzehn Stück Hubschrauber, und jetzt nehmen wir sowieso die von den Amis, die sind zwar teurer, beachten sie den Dollarkurs!, halten dafür aber nicht halb so lang, und außerdem haben die Amis uns nicht so unaussprechlich beleidigt wie diese Froschesser. Allerdings heißt Mitterrand inzwischen, wahrscheinlich zur Tarnung, gar nicht mehr Mitterrand, sondern Chirac, könnten Sie sich vielleicht merken, wie diese Ausländer heißen? Kaum hat man sich ihre Namen gemerkt, heißen sie schon wieder anders. So. Nun musste van Becker den dünnen Mann aber endlich zur Kenntnis nehmen, schließlich hatte er mit schriller Stimme Informationen für mindestens fünf neue Folgen: Wer hat denn Sie hereingelassen, fragte van Becker denn auch prompt. Wir stellen hier Geschichte fürs Fernsehen nach, für diejenigen, die beim ersten Mal nicht verstanden haben, was passiert ist. Aber Sie sehen nicht so aus, als könnten Sie überhaupt von alleine stehen. Es wird außerdem noch zehn Jahre dauern, bis das, was Sie uns hier zu sagen haben, aus der Reinigung kommt und den Menschen zugemutet werden kann. Und dann wird es niemand mehr interessieren. Fernsehen, verstehen Sie? Die Leute, die sich das anschauen, wollen wiedererkennen, was sie sehen. Aber wenn sie es noch gar nicht gesehen haben, wie sollen sie es dann erkennen?
Wir müssen, sagte Vigant, dem der kleine Mann irgendwie Leid tat, er schien ihm in den letzten Minuten geschrumpft, erweckte jedoch etwas verschüttet Geglaubtes in ihm zum Leben, vielleicht kalten Kaffee, vielleicht Zuneigung, wir müssen, sprach Vigant weiter, obwohl er keine Lust hatte, dem dünnen Mann irgendwas beizubringen, wie ich schon sagte, die Wahrheit nicht kennen, um sie zeigen zu können. Die Wahrheit ist ja vielmehr, was wir zeigen! Sie muss im Leben keine Schönheitskonkurrenz bestreiten, damit die Leute dann plötzlich die Wahrheit selber zu bestreiten versuchen, obwohl wir sie ihnen ja mehrmals deutlich gezeigt haben. Schön müssen nur unsere Hauptdarstellerinnen sein, die Frauen oder Geliebten der Helden. Dem kleinen Mann aus dem Osten gefiel das. Er hatte auch eine sehr attraktive blonde Freundin zu Hause. Sie folgte ihm mit seiner Aktentasche, die zu tragen er zu schwach war, überallhin. Er war lange von vielen verachtet und gedemütigt worden und hätte diese trübe Wahrheit auch gern ein bisschen verkleidet, doch fand er keine Kleider, die ihr gepasst hätten. Und mit diesem Sender schien es auch nichts Rechtes zu werden. Wir zahlen immer unverhältnismäßig viel Co-Produktions-Gebühr, obwohl wir praktisch nicht vorkommen, egal wo, flüsterte der Dünne beinahe unhörbar zu niemandem Bestimmten. Außerdem, fuhr Vigant unbeirrbar fort, muss die Wahrheit schließlich gar nicht wahr sein. Stimmts? Na, sehen Sie! Ob sie es gewesen sein wird, wird nicht der Zuseher entscheiden, die Wahrheit selbst wird uns in Gestalt einer Quote, das ist ein Foto vom Zielfinish, sagen, ob sie gut getroffen worden ist und wer gewonnen hat. Dafür wird sie uns einmal irgendwo treffen, wenn wir es am wenigsten erwarten.
Das zumindest kann ich Ihnen jetzt schon garantieren, sagte der Dünne mit dem südosteuropäischen Akzent und breitete mit zitternden Fingern noch mehr Papiere rings um sich herum aus, die er seinem Köfferchen entnommen hatte, ich habe sie nämlich persönlich kennen gelernt, die Wahrheit, und einen Teil davon sogar mitgebracht. Hier ist sie. Sie hat gesagt, sie will unbedingt ins Fernsehen, aber ins Privatfernsehen, und so eins haben wir noch nicht. Es ist uns durch ein uraltes Gesetz verboten. Dafür wird sie dann auch immer brav auf unserer Seite sein. Wir sind daheim so lieb und klein, dass immer andre bestimmen, was wahr wird sein. Demnach kann es nicht schaden, wenn wir uns mit der Wahrheit verbünden, die wir uns, wie Sie das tun, ausgesucht haben. Wir haben das in der Vergangenheit leider öfter unterlassen und bitter dafür bezahlen müssen, zum Beispiel zahlen wir jetzt, eine Menge Reparatur-, ich meine Reparationszahlungen. Aber schauen Sie jetzt einmal her: Bei uns sieht das, was Sie Wahrheit nennen, auch wenn wir sie ohne weiteres anerkennen, was bleibt uns auch übrig, wo doch keiner auf uns hört oder uns sehen möchte, bei uns also sieht das alles ganz anders aus als bei Ihnen! Wie sollen wir da je zu unserer geplanten Co-Produktion kommen? Die Leute bei uns erkennen ja schon ihre eigene Wahrheit nicht, nicht einmal, wenn sie ihr auf der Straße begegnen oder jeden Tag mit ihr frühstücken. Was sollen sie also erkennen, wenn wir ihnen Ihre anstatt unserer anbieten? Sie werden nie etwas lernen und andere mit ihrer hartnäckigen Unbelehrbarkeit abschrecken. Also umgekehrt trifft das aber auch zu, sagte Vigant etwas von oben herab. Wir sind wiederum an Ihrer Wahrheit nicht interessiert, Ihr Staatsfunk oder wie Sie ihn nennen, kann daher unsere nehmen, aber er kann es auch ganz sein lassen. Manches Land bringts eben nicht, und damit meine ich nicht nur die Schweiz, wo unser Geld liegt, Ihr Land zum Beispiel bringt uns keine nennenswerten Zuschauerzahlen. Fürs Fernsehen taugen Sie mitsamt Ihren Geschichten nicht. Sie müssen leider in die Primetime-Nachrichten, und dort haben wir genau zweieinhalb Minuten für Sie vorgesehen, keine mehr, keine weniger. Also belästigen Sie uns nicht länger mit Ihren Anträgen, dazugehören zu wollen. Sie haben keinen dicken Kanzler, Sie haben einen dünnen Kanzler, der Ihnen übrigens ähnlich sieht. Wahrscheinlich sehen alle Leute im Osten gleich aus, jahrhundertelange Inzucht, könnte ich mir vorstellen. Sie haben halt keine Hausfrauen mit Tausendern in den Handtäschchen, und Sie haben keinen Unhold in Weltformat zu bieten, samt Sippe, im Dutzend billiger, der auf einer Jagd ermordet wird, weil vom BND gedungene Ärzte ihm anstatt der Luftröhre die Speiseröhre durchgeschnitten und das nachher mit mangelnden anatomischen Kenntnissen begründet haben. Das Essen ist diesem großen Mann, welcher immerhin mehr Geschichte gemacht hat, als Sie je gesehen haben, damals einfach in die Luftröhre geworfen worden. Er ist daran erstickt, jeder wäre das. Nichts nachzuweisen. Wie immer sind die Ärzte schuld. Und was Sie schon gar nicht haben, sprach Becker zu dem kleinen Mann aus dem Osten, da bin ich mir sicher, sind ein echter Fürst samt Gemahlin als Zeugen, Leute, die von niemandem je in Zweifel gezogen werden, außer sie hauen wieder mal wen in die Fresse. Denn die Leute, die unsere Serien gesehen haben, glauben ja, dass Fürsten so was tun, ein kleiner Erfolg unserer Arbeit, immerhin. Andre müssen sich da schon absurdere Sachen ausdenken, die uns nicht einmal die Zielgruppe fünfjährige Vorschüler im mathematischen Zweig des Kindergartens abnehmen würde: Hausfrauen mit dicken Geldtaschen, die zu Fuß von Autobahnparkplätzen abgehen, nein, nicht die Geldtaschen, die Hausfrauen, von Parkplätzen, die eigens für sie geschaffen wurden, damit sie mit dem Geld nicht so weit zu Fuß gehen müssen! Können Sie sich das vorstellen? Nein? Na sehen Sie! Und so geht das weiter mit Ihrer Bedeutungslosigkeit. Ihr Bundeskanzler wird nicht einmal zur Feier des Tags der Deutschen Verunreinigung eingeladen und auch sonst keiner von Ihnen, auch nicht diese liebenswürdige Außenministerin. Aber unsre Frau Hürland-Büning, die hat einen eigenen Autobahnparkplatz mit eigenem Abgang zu ihrem eigenen Haus! Können Sie sich so was überhaupt vorstellen? Ihr Auto wartet derweil ruhig auf sie und gibt ihr notfalls ein Alibi, während sie allein mit dem Geld nach Hause geht, durch eine hohle Gasse, ich meine einen schmalen Weg. Manchmal darf ihr Auto mit ihr mitfahren. Da können Sie nicht mithalten, was? Nein, ich habe eine Eigentumswohnung, sprach der dünne Mann wie betäubt.
Gossel trat in diesem Augenblick heran und sprengte entschlossen den Kreis, die Redaktionskonferenz sollte endlich weitergehen, dieser dünne seltsame Fremde auch, Informanten werden erst nach Dienstschluss konspirativ empfangen, damit man Spesen machen kann. Gossel hatte das üble Gefühl, dass unter diesem dünnen Mann, den er nicht kannte, mindestens eine weitere Tonne Geschichte vergraben liegen könnte, die auch noch eingearbeitet werden müsste, falls es doch zu einer Co-Produktion käme, man konnte ja nie wissen. Er hatte die Schalck-Golodkowski-Biographie gelesen und hielt nichts mehr für unmöglich, je größer die Lügen, umso größer der Zauber, der von ihnen ausgeht. Nichts zahlen, aber Ansprüche stellen und außerhalb eines Urwalds vorkommen wollen, das kennen wir schon. Der kleine Mann schien Hunger nach schlechter Behandlung zu haben, welche er zu seinen schlechten Nachrichten als Beilage essen wollte, Nachrichten, die ihm in den letzten Monaten, so viel konnte man sehen, tonnenweise zuteil geworden sein mussten.
Wir sind an einer Co-Produktion mit Ihnen zwar interessiert, das haben wir Ihnen doch bereits schriftlich mitgeteilt, nicht aber daran, dass Sie zu der Handlung etwas beitragen. Sie zahlen, aber Sie bestimmen nicht. Haben Sie die Briefe denn nicht gelesen? Wir haben sie an die Adresse Ihrer derzeitigen Geliebten geschickt, vielleicht hat sie die Briefe hinter ihr christliches Menschenbild gesteckt oder an Ihre Frau weitergeschickt, oder sie findet sie nicht mehr. Was kommen Sie überhaupt persönlich her, haben Sie denn kein Handy, haben Sie denn keinen Redakteur in Ihrem staatlichen Fernsehen, der arbeitet und den Sie uns schicken und den wir verstehen können? Also noch einmal, zum Mitschreiben: Entweder Sie kaufen unsre Geschichte ganz, so wie sie ist, oder Sie kaufen sie gar nicht, eine eigene haben Sie ja doch nicht und brauchen Sie jetzt auch nicht mehr. Sie haben ja uns! Ich hatte vorhin einen interessanten Anruf, und eine innere Stimme sagt mir, dass wir Ihre Papiere gar nicht brauchen werden.
Aber doch, aber doch, piepste der kleine Mann, der unter den Blicken Gossels immer nervöser wurde, und nestelte an einer Schleife, die er sich um den Hals gebunden hatte und die ihn plötzlich irgendwie zu würgen schien. Seine beiden Gesprächsparter hätte er beinahe vergessen, die würden ihm ohnedies nicht helfen, wenns drauf ankam. Er musste sich und sein Land hier irgendwie verkaufen, sonst kamen sie beide, das Land und der dünne Mann, in der Story nicht vor und würden spurlos verschwinden. Sollte er ihnen verraten, dass Mitterrand jetzt unter dem Namen Chirac weiter seine Ränke spann? Das Werk seines zwielichtigen Vorgängers fortzusetzen gedachte, immer auf die Kleinen? Der dünne Mann fuhr sich noch einmal mit dem Zeigefinger zwischen Hemdkragen und Schleife, seine Gesichtsfarbe spielte ins ungesund Violette. Hätte er die Gulaschsuppe in der Raststätte lieber doch nicht essen sollen? Der Mann, der ihn dort aus dem Nichts heraus angesprochen hatte, war gewiss kein Vertreter der Steyr Daimler Puch AG gewesen, wie er vorgegeben hatte, und außerdem waren doch auch die längst privatisiert. Die aus dem Osten Deutschlands hätten das kleine Land ja fragen können, wie so was geht, als sie noch Zeit dafür hatten. Was Geld bringt, verkauft man, was keins bringt, behält man. Der kleine Mann senkte, wenn auch immer noch unbescheiden, das Haupt, die Erde wankte, die Maskenbildnerin stürzte ins Zimmer und tupfte ihm etwas auf die Wangen, er sah den vorgehaltenen Spiegel nicht mehr. Mit einer beinahe leicht zu nennenden Gemütlichkeit, dem polizeilichen Kennzeichen des Landes, aus dem er kam, stürzte er zu Boden, neben sich den Aktenkoffer, der öffnete sich noch weiter, und die Papiere breiteten sich aus, als hätten sie etwas zu verkünden. Der dünne Mann war möglicherweise vergiftet worden, möglicherweise aber auch vor Schwäche gestorben. Jetzt mussten sie also Julia Stemberger nehmen und vielleicht den Schauspieler, wie hieß er noch gleich, nicht Klaus Wildbolz, einen Landarzt spielt er jeden Tag von halb drei bis halb vier, mit so viel Einsatz, als wäre er selber die Pest, die bis ins letzte Dorf drang, eine Spur der Verwüstung hinter sich herziehend. So, dann wäre auch dieses Land würdig im Kreis seiner Schwestern vertreten und würde nicht immer selber getreten werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen