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Archiv-Artikel

Kampf um die Prestigestadt

KRIEG Hunderte von Kilometern sind die Rebellen auf die Hauptstadt vorgerückt. Jetzt stehen sie vor Gaddafis Bastion Sirte. Militär des Diktators ist in der Defensive. Heute Libyenkonferenz in London

Von D.J.
Sirte wurde von Gaddafi zielstrebig zu einer Art zweiter Hauptstadt ausgebaut

TRIPOLIS/BENGASI/BERLIN rtr/afp/taz | Die libyschen Rebellen sind in den letzten Tagen mehrere hundert Kilometer nach Westen vorgerückt. Die wichtige Stadt Sirte an der Mittelmeerküste fiel gestern allerdings offenbar doch nicht, wie zunächst behauptet, an die Rebellen. Die Einnahme Sirtes hätte bedeutet, dass Gaddafis Armee im Wesentlichen nur noch das Gebiet um die Hauptstadt Tripolis kontrolliert – und sie wäre ein Signal gewesen, dass das Machtsystem des libyschen Diktators endgültig kollabiert. Sirte, genau in der Mitte zwischen Tripolis und Bengasi gelegen, ist Gaddafis Geburtsort und wurde von ihm zielstrebig zu einer Art zweiter Hauptstadt ausgebaut, wo 1999 die Afrikanische Union (AU) ins Leben gerufen wurde.

„Vor Sirte scheint der Angriff erst mal ins Stocken geraten zu sein“, berichtet taz-Reporter Marc Thörner, auf Rebellenseite im Kriegsgebiet unterwegs. Am Sonntagabend hielt er sich in der Frontstadt Ben Jawad auf. „Am Ortseingang wurde plötzlich geschossen, wir mussten in Deckung gehen, Milizionäre Gaddafis hatten sich noch in der Stadt versteckt“, meldet er. Die Erfolge der Rebellenoffensive seien dennoch offensichtlich: „Ganze Busladungen von gefangenen schwarzafrikanischen Gaddafi-Soldaten wurden weggekarrt. Es sieht jetzt so aus, als ob Gaddafi seine schweren Waffen kaum noch einsetzen kann. Wir fuhren an Dutzenden zerstörter Panzer und Raketenwerfer vorbei.“

Während Kämpfe östlich von Sirte gestern weitergingen, diskutierten internationale Diplomaten eifrig darüber, welche politische Strategie auf der internationalen Libyenkonferenz in London am heutigen Dienstag vorgeschlagen werden soll. Die Stimmen mehren sich, dass Gaddafi eine letzte Chance zum freiwilligen Abgang in Würde angeboten werden sollte, einschließlich Immunität vor Strafverfolgung. „Die Botschaft müsste sein, dass ein solcher Deal nur eine kurze Zeit lang auf dem Tisch liegt; nach einem begrenzten Zeitraum wäre alles möglich“, sagte Saad Djebbar, Exillibyer in London und Vermittler bei den Verhandlungen zwischen Großbritannien und Libyen zum Lockerbie-Terroranschlag.

An der Konferenz in London sollen 35 Länder teilnehmen. Unklar ist, ob die Gegenregierung der libyschen Rebellen aus Bengasi anreist. Als erstes arabisches Land erkannte Katar den Nationalrat in Bengasi als einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes an. Ein wichtiger Impuls wurde auch von US-Präsident Barack Obama erwartet, der in der Nacht zum Dienstag eine Rede halten wollte.

Nach der Einigung, dass die Nato die Führung des internationalen Militäreinsatzes in Libyen übernimmt, hat auch das skeptischste Nato-Mitgliedsland Türkei seinen Beitrag präzisiert. Unter anderem will die Türkei die Kontrolle des Flughafens von Bengasi übernehmen, um von dort aus humanitäre Hilfe zu koordinieren. Als vordringlich gilt medizinische Hilfe in der am Samstag von den Rebellen zurückeroberten Stadt Adschdabija. Während der Kämpfe sei der Großteil der Bevölkerung geflohen und kehre jetzt zurück, während zahlreiche Kriegsopfer in der Stadt dringend versorgt werden müssten, heißt es im jüngsten Lagebericht der humanitären UN-Koordinationsstelle OCHA. Das städtische Krankenhaus habe weder fließendes Wasser noch Stromanschluss und verfüge lediglich über einen kleinen Generator zur Stromerzeugung, berichtete das Hilfswerk International Medical Corps. Zahlreiche Kriegsversehrte seien inzwischen nach Ägypten evakuiert worden.

Die Zahl der Libyenflüchtlinge stieg nach der laufenden Zählung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration bis Samstag auf 376.485. Ein starker Anstieg der Flüchtlingszahlen in den südlichen Nachbarstaaten Niger, Tschad und Sudan wird gemeldet. D.J.