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Archiv-Artikel

Kampf um Würde

Leben, den Tod akzeptieren und sterben dürfen: Linn Ullmanns Roman „Gnade“

Während der Arzt die Diagnose offenbart, muss Johan an Mai denken, wie sie vor dem Spiegel steht und die Bürste durch ihr Haar gleiten lässt. Mit der Begrenztheit des eigenen Daseins konfrontiert zu werden ist schwer, weiß die 1966 in Oslo geborene Autorin Linn Ullmann. Sie erzählt in ihrem Roman „Gnade“ von dem leisen Kampf des 71-jährigen Zeitungsredakteurs Johan Sletten, den Tod zum Leben anzuerkennen und selbst zu entscheiden, wann die Zeit reif ist. „Du sprichst von Würde. Es gibt keine Würde, Johan. Ein sterbender Mensch, ob alt oder krank oder beides, wird infantilisiert – zuerst von der Natur, dann vom Gesundheitswesen.“

Selbstbestimmt zu leben und auch sterben zu dürfen sollte selbstverständlich sein, denkt man. In einer Gesellschaft, die den Tod fürchtet, wird aktive Sterbehilfe aber immer noch als ein Tötungsdelikt geahndet. Ullmann zeigt nun, dass jeder Eingriff wider die Natur ist, ob es sich nun um sinnlose Lebensverlängerung oder um problematische Lebensverkürzung handelt.

Johan will die Kontrolle behalten, wenn es so weit ist, er will Mais Hand spüren, die ihn sicher die Grenzen passieren lässt. Aber wie weit reicht ihre Liebe? Mai gerät in Gewissenskonflikte. Als Ärztin ist sie verpflichtet, Leben zu erhalten. Anderseits will sie ihrem Mann Schmerzen ersparen.

Linn Ullmann beschreibt gefühlvoll die Ängste ihrer Figuren. In einem schwungvollen Plauderton und zuweilen einer unverbraucht-ausdrucksstarken Bildersprache durchdringen sich die Zeiten in Vor- und Rückblenden. Die Struktur des Textes ist dabei eng an das subjektive Erleben der Romanfigur gebunden: Während Johan seinen Körper zunehmend als fremd empfindet, gewinnt er an innerer Stärke, und der Text führt zum Wesentlichen. „Morgens wird es hell und abends dunkel, und mich gibt es im Licht wie in der Dunkelheit. Bedeutet das gar nichts?“ Es sind diese kleinen Glücksmomente, das bewusste Wahrnehmen des eigenen Daseins, in denen wir unsere Lebendigkeit spüren. Und doch neigen wir dazu, im Leben nach einem geheimnisvollen Sinn zu suchen. Ja, es gibt Unaussprechliches. Doch worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. So gewinnt auch die Stille an Bedeutung. Der Konflikt entsteht, als Mai glaubt, Johan fantasiere nur noch. Johan aber ist bei klarem Verstand, nur die Grenzen sind für ihn durchlässig geworden. Während er seiner toten Mutter begegnet oder sich mit seiner verstorbenen Exfrau streitet, wird er für Außenstehende immer unnahbarer. Er kann seine Gedanken nicht mehr in Worte fassen. So hört Mai auch nicht seine Bitte zu warten, bis es hell wird.

Linn Ullmanns Roman ist eine schöne und zugleich traurige Liebeserklärung an das Leben. Und er schärft das Bewusstsein des Lesers für Themenbereiche, die gern verdrängt werden. SANDRA SCHNEIDER

Linn Ullmann: „Gnade“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Droemer Knaur, München 2004, 160 Seiten, 14,90 Euro