■ Kabelsalat und Mörderjagd zum WM-Auftakt im TV: Nackte Kanone, nackter Wahnsinn
Was ist das: Stehen in den USA tausende Menschen zusammen und brüllen „Go, go!“ Fußball-Weltmeisterschaft womöglich? Nix da. Enthusiasmiert waren die Leute wegen O.J. Simpson. Der fegte am Feitag stundenlang über die kalifornischen Highways, bejubelt vom Straßenrand aus und begleitet von einem gewaltigen Polizeiaufgebot. Hubschrauber oben, 20 Polizeiwagen hinterher. Ist ja auch ein Idol, der Mann. Schauspieler („Die nackte Kanone“) und Footballstar (Buffalo Bills, San Francisco 49ers).
Dumm nur, daß er auf der Flucht war. Soll seine Ex-Frau und einen Freund erstochen haben. Noch dümmer: Die hollywoodreife Verfolgungsjagd fand genau während des Eröffnungsspieles statt. Und die US-Sender waren live dabei — den ganzen Tag über. Da guckten die Leute lieber Richard Kimble als Reality-TV und nicht ein langweiliges Gekicke zwischen Deutschen und Bolivianern.
Was für ein Schlag für die Marketing-Strategie des US-Soccer! „Wenn der Verdächtige nicht bald gefaßt wird“, jammerte ein Offizieller in der WM-Zentrale, „haben wir schlechte Karten.“ Pech gehabt. Die TV- Kanäle zeigten die Live-Version von „Auf der Flucht“, CNN-Headlines brachte den deutschen Auftaktsieg unter ferner liefen.
Der ARD ging's gleichzeitig auch nicht besser. Dort gab's sensationelle Sehbeteiligung (20,15 Millionen) und ein langes Gesicht beim Intendanten. Dumm nämlich: Der deutsche Kommentar war in Spanien zu hören, der italienische in der Türkei und der französische weiß der Teufel wo. Ach, vereintes Europa! Und später sang Diana Ross uns ein verzerrtes Krächzen in die Fernsehzimmer. Dumm auch das: Die „Kommandoleitung“ (Regisseur Geis) knarzte. Dabei war alles gut vorbereitet gewesen, hatte die zentrale Arbeitskampfleitung der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) brav auf alle Streikaktivitäten verzichtet. Und dann sowas!
Da hilft demnächst nur eines: Wenn's morgen wieder knirscht und kracht, ihr Leute bei ARD und ZDF, einfach umschalten auf CNN und uns mitfahren lassen über die prächtigen Autobahnen von Los Angeles, irgendeinem wilden Killer hinterher. Würden wir gern in der ersten Reihe sitzen. Herr Thömmes
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