KP-Mitglied Shang Dewen: "China hat sich in Tibet verschätzt"
Pekings Regierung sollte den Dialog mit dem Dalai Lama suchen, fordert der chinesische Intellektuelle Shang Dewen. Sonst besteht die Gefahr, dass versucht wird, die Unabhängigkeit Tibets mit Gewalt zu erzwingen.
taz: Herr Dewen, warum will China trotz der jüngsten Proteste in Tibet partout nicht mit dem Dalai Lama verhandeln?
Shang Dewen: Der Dalai Lama tritt für eine Autonomie Tibets ein, nicht für seine Unabhängigkeit. Das ist eine gemäßigte Forderung, die ihm im Ausland hohes Ansehen verschafft. Aber seine Gefolgsleute, von denen viele schon 1959 mit ihm nach Indien geflüchtet sind, denken ganz anders. Viele von ihnen sind im Westen erfolgreich, sind Professoren und Unternehmer und haben inzwischen ganz andere Wertvorstellungen als der Dalai Lama. Sie halten seine Position für viel zu weich und wollen die chinesische Regierung lieber mit Gewalt unter Druck setzen, um die Unabhängigkeit zu erzwingen.
Kann man mit diesen Leuten nicht reden?
Nein. Die Unruhen zeigen ihre Absicht, China zu spalten. Sie nutzen dafür das Jahr der Olympischen Spiele und die Unterstützung einiger ausländischer Menschenrechtsorganisationen. Ihnen geht es in diesen Wochen nur darum, Störungen zu provozieren. Da China vor einem Berg von Problemen steht, ist das auch nicht schwer. Es scheint mir, als wollten die Anstifter der Proteste in Tibet Salz auf die Wunde der chinesischen Regierung streuen.
Hat Peking richtig reagiert?
In Tibet hat diesmal kein Massaker stattgefunden, immerhin. Man hat versucht, die Proteste ohne Blutvergießen so zu unterdrücken, dass sie von alleine verebben: die Regierung hat sich also für ihre Verhältnisse zurückhaltend gezeigt, das ist schon ein Fortschritt. Aber wie mir bekannt ist, war in Frankreich kürzlich kein einziger Polizist im Einsatz, als hunderttausend Arbeiter streikten. Daher ist es für den Westen trotzdem nicht akzeptabel, wie die chinesische Regierung mit der Tibet-Frage umgeht.
Ist die chinesische Regierung mit ihrer Tibet-Politik nicht gerade gescheitert?
Die Regierung hat die Lage falsch eingeschätzt. Sie operiert rein taktisch: Sie hofft und setzt darauf, dass die Dalai-Lama-Clique zusammenbricht, wenn der Dalai Lama stirbt. Nach dem Motto: Der ist ja schon alt und kann nicht mehr lange leben. Dann könnte Peking mit dem Rest seiner Leute verhandeln, ihnen machtlose Ämter andienen und diese würden sich ergeben. Aber so funktioniert das nicht. Peking fehlt eine kluge, langfristige Politik. Im Grunde fühlt man sich einer echten Lösung des Tibet-Problems nicht gewachsen.
Wie sähe diese Lösung aus?
Die Regierung sollte den vernünftigen Forderungen des Dalai Lama nach einer Autonomie Gehör schenken. Seit Alters her genoss Tibet immer eine hochgradige Autonomie. Unter der Herrschaft Chiang Kai-sheks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Tibet politisch, kulturell und religiös im Wesentlichen unabhängig. Wenn die chinesische Regierung die tibetische Autonomie-Forderung auf Dauer abschlägt, kann es nur weitere Konflikte geben.
Warum hat es China in Tibet so schwer, Erfolge vorzuweisen?
Gerechterweise muss man sagen, dass in Tibet vor dem Einmarsch chinesischer Truppen ein unmenschliches Sklavensystem herrschte. Aber die Leute dort haben seit Jahrhunderten ihre Religion, an die sie genauso gewöhnt sind wie an das Leben in einem geschlossenen, kleinen Kreis von Menschen. Egal, wer von draußen in dieses System eindringt, er wird als Besatzer empfunden.
Der Dalai Lama sagt, dass die Chinesen in Tibet einen "kulturellen Völkermord" verüben. Stimmt das denn nicht?
Ich kann diese Auffassung nicht teilen. Die tibetische Zivilisation ist bis heute nicht vernichtet worden. Die Kommunisten haben nach der Befreiung Tibets wirklich große Fehler, sogar Verbrechen begangen. Aber sie haben die Tibeter trotzdem vom finsteren Mittelalter befreit und in den letzten Jahren viel investiert und aufgebaut.
Hilft China die ausländische Kritik an seinem Vorgehen in Tibet?
Der Westen nutzt es aus, dass die KP vor dem Olympischen Spielen Menschenrechtsversprechen gegeben hat, die sie jetzt, wie man in Tibet sieht, nicht halten kann. Aber das ist in Ordnung. Die Kritik des Westens kann grundsätzlich dazu beitragen, die Gedanken in China zu befreien. Politische Reformen und Menschenrechte in China können dadurch gefördert werden. Der Westen sollte sich nicht scheuen, der KP Druck zu machen. Wenn die KP sich politischen Reformen verweigert und allein die Marktwirtschaft vertieft, läuft sie Gefahr eine Kapitalistenpartei zu werden, die dann auch faschistischen Einflüssen ausgesetzt sein könnte.
Muss China, außer in Tibet, noch weitere Proteste fürchten?
Die KP unterdrückt nicht nur die Tibeter, sondern auch lokale Bauernbewegungen. Im letzten Dezember gab es in mehreren Provinzen Proteste von Bauern, die ihr enteignetes Land zurückhaben wollten. Sie wollten die Dorfkader entmachten. Ihr Slogan lautete: Wir wollen leben, wir wollen unser Land haben! Solche Proteste können jederzeit wieder geschehen.
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