KOMMENTARE: Höchste Zeit
■ Europa muß in Jugoslawien ernsthaft für eine friedliche Lösung eintreten
Die Generäle der jugoslawischen Volksarmee müssen über die Zustände in „ihrem“ Land schon verzweifelt sein. Angesichts der Unwilligkeit nicht mehr nur der nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien, für die Armee finanziell aufzukommen, angesichts des Zerfalls der Macht der Bundesorgane waren sie nun auch noch gezwungen, einer vehementen und sich täglich vergrößernden Protestbewegung in Serbien gegenüberzustehen. Diese stellt sich zwar nicht prinzipiell gegen alle Werte, für die auch die Armee eintritt, bedroht aber die antiquierte Herrschaftsform in Serbien. Und die ist eine der letzten Stützen für eine Armee, die sich zunehmend als unfähig erweist, den grundsätzlichen Wandel in Jugoslawien zu begreifen. Die Verhängung des Ausnahmezustands war denn auch die einzige Maßnahme, die dieser Generalität zur Lösung der Krise eingefallen ist. Ihre Durchsetzung hätte zwangsläufig zu einem Bürgerkrieg geführt.
Daß das Argument, ein von der Armee beherrschtes Jugoslawien verlöre im wahrsten Sinne des Wortes jegliche Kreditwürdigkeit, bei der Entscheidung im Staatspräsidium eine Rolle spielte, läßt vermuten, daß noch nicht jegliche politische Rationalität aus der gesamtjugoslawischen Auseinandersetzung verschwunden ist. In der Tat konnte sich die Bundesregierung unter Ministerpräsident Ante Marković, die in den letzten Monaten zwar an Einfluß eingebüßt hat, nur durch die Funktion, als Mittler zwischen den europäischen und internationalen Institutionen und Banken zu fungieren — die Währung ist an die DM angebunden — , sich einen gewissen Spielraum erhalten. Angesichts des objektiv großen Einflusses des Auslandes auf die jugoslawische Politik muß es andererseits um so mehr verwundern, daß angesichts der Kriegsgefahr in diesem Land Europas bisher so wenig diplomatische Aktivitäten entwickelt wurden, um friedliche Lösungen zu favorisieren. Und das ist noch um so unverständlicher, als nach den Wahlen in den Republiken im letzten Jahr immer offensichtlicher wurde, daß die bisher unterstützte Politik von Ante Marković gescheitert ist und nichts mehr den Zerfall des Vielvölkerstaates aufhalten kann.
Der jugoslawische Zentralstaat ist jetzt schon am Ende, ob die Armee dies mit der Verhängung des Ausnahmezustands noch einmal deutlich macht oder nicht. Wenn über die Protestbewegung auch die letzte Stütze des Zentralismus, nämlich die durch Milosević in Serbien am Leben erhaltene kommunistische Herrschaft, zerfällt, wird noch klarer, daß es schon lange keinen Grund mehr gibt, auch im Ausland an dieser Fiktion festzuhalten. Da angesichts der unüberbrückbaren Widersprüche zwischen den Nationalitäten des Vielvölkerstaates eine hausgemachte friedliche Lösung unwahrscheinlich ist, muß wenigstens von den europäischen Ländern aus gehandelt und nach Lösungen gesucht werden. Gelingt dies nicht, braucht sich niemand zu wundern, wenn das jugoslawische Pulverfaß kriegerische Auseinandersetzungen provoziert. Wer möchte es schon zu dem dann notwendigen Ruf nach dem Einsatz einer UNO-Streitmacht kommen lassen? Erich Rathfelder
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