KOMMENTARE: Vom Lager zur Sekte
■ In Neumünster haben die Grünen eine neue Etappe ihres Zerfalls inszeniert
Neumünster hätte ein Fanfarenstoß sein müssen. Aber es kam nur ein dumpfer Ton aus einem zerrissenen Trommelfell. Die Fanfare hatte Jutta Ditfurth mit ihrem untrüglichen Instinkt für die Medien, den sie mit den Fundamentalisten aller Welt teilt: Mit ihrem Austritt hat sie das Heraufziehen einer neuen Apo verkündet. Sie sollte sich aber an den Satz von Marx erinnern, daß die Geschichte zu Wiederholungen neigt und der Tragödie gerne die Farce folgen läßt. Das Signal, das die Grünen hätten geben müssen, wäre vor allem die Wahl von Antje Vollmer gewesen — und zwar eine Wahl mit überwältigender Mehrheit. Und dies aus keinem anderen Grund, als daß Antje Vollmer noch eine der wenigen politischen Persönlichkeiten ist, die den Grünen geblieben sind; weil sie sich — mit geringer Verspätung — mit der Wirklichkeit der Vereinigung auseinandersetzte; weil sie politische Ideen hat und zugleich Instinkt für die Tagesaktualität; vor allem aber, weil sie Erfolg im Bundestagswahlkampf haben könnte.
Doch die Grünen bewiesen, was man schon ahnte: Die Basisdemokratie, wie alle historischen Formen der Selbstverwaltung, hat keine Kraft zur wirklichen Erneuerung. Sie sind von der Obsession beherrscht, die Etappen des Zerfalls bis zuletzt auszukosten. Nun haben sie die „Linken“ Christine Weiske von den Ostgrünen und Ludger Volmer gewählt — in der Öffentlichkeit bestenfalls — wenn überhaupt — fürs linke Leiden an der Wirklichkeit bekannt. Christine Weiske begeisterte die Bundesversammlung mit dem Satz: „Wer sich positiv auf diese Gesellschaft bezieht, der ist mit schuld am Elend dieser Welt!“ Das unglückliche Bewußtsein als Dogma. Wie man mit einem rein negativen Bezug Politik machen kann, bleibt ihr Geheimnis. Ein Sieg der Linken also? Die Realos wollen es so sehen. Aber das ist nicht wahr. Es ist ein Sieg des Realitätsverlustes, ein Sieg der Vergangenheit über die Gegenwart des vereinigten Deutschland. Die Grünen haben es in Neumünster fertiggebracht, sich nicht über die Ost-West-Realität ihrer Partei auseinanderzusetzen. Noch immer sehen sie den Osten nicht. Nur der grüne Bauch hat gekollert.
Doch nicht die Grünen sind am Ende, sondern die Bundesgrünen. Die „Ländergrünen“ wissen ganz genau, daß sie sich das nicht leisten können, was die Bundesgrünen sich leisten zu können glauben. Mit der Verwandlung des Bundeshauptausschusses zum Länderdelegiertenrat haben sie ein Machtinstrument in der Hand. Die Grünen sind zur Länderpartei geworden, zur ersten rein föderalistischen Partei. Aber ob sie mit dem Gespenst einer Bundespartei einen Wahlkampf bestreiten können, ist nun wirklich stark zu bezweifeln. Doch genau um die Fähigkeit, sich in einem Bundestagswahlkampf zu behaupten, ging es in Neumünster. Nach der Katastrophe der Wahl im Oktober 1990 überraschten die Grünen damit, daß sie — wie Comicfiguren — noch über den Abgrund hinausrannten. Neumünster hat gezeigt, daß sie immer noch nicht abgestürzt sind. Es gibt keinen Katastrophenkonsens. Sie schreiten weiter im luftleeren Raum. Nun macht es Sinn. Denn sie schreiten weiter als Sekte, deren Wahrheit bekanntlich mit der Unwirklichkeit wächst. Klaus Hartung
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