KOMMENTARE: Maßstäbe
■ Die Gauck-Behörde präsentierte ihren Untersuchungsbericht über Manfred Stolpe
Schwer zu sagen, ob Manfred Stolpes Reaktion auf den Untersuchungsbericht der Gauck-Behörde selbstherrliche Offensive oder letzte Rückzugslinie im politischen Überlebenskampf darstellt, provozierend ist sie allemal. Die Maßstäbe der Gauck-Behörde seien nicht die seinen, versucht Stolpe die Ergebnisse der Recherche, die ihn als inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit einstufen, als unverbindliche Meinungsäußerung zu disqualifizieren. Stolpe weiß, daß, auch im Bewußtsein einer wohlwollenden Öffentlichkeit die Glaubwürdigkeit seiner DDR-internen Entspannungspolitik dort endet, wo die regelrechte IM-Tätigkeit begann. Also setzt er darauf, die Gauck-Behörde soweit zu delegitimieren, daß am Ende gleichgut auch die eigenen Kriterien als Maßstab seiner politischen Zukunftsfähigkeit gelten können.
Solcherart Selbstgerechtigkeit hat mit Aufklärung der DDR-Vergangenheit wenig zu tun — mehr schon mit der politischen Situation im wiedervereinigten Deutschland. Denn nicht allein Stolpe setzt — IM hin oder her — auf seine Unverzichtbarkeit. Parteiübergreifend ist das Unbehagen bei der Vorstellung, einen der wenigen herausragenden und populären Politiker aus der ehemaligen DDR seiner Geschichte zu opfern. Angesichts einer ökonomisch wie sozialpsychologisch prekären Situation geraten diejenigen in die Defensive, denen eine schattenlose persönliche Vergangenheit noch immer als unverzichtbares Voraussetzung für eine einflußreiche Positionen im vereinten Deutschland gilt.
Am Fall Stolpe wird entschieden, ob man sich den konsequenten Elitenwechsel in der ehemaligen DDR weiter leisten will — oder kann. Die politische Debatte über diese Frage ist überfällig und bedeutet nicht zwangsläufig den Schlußstrich. Denn gelänge es in der Auseinandersetzung, Moral und Pragmatismus über ihre sture Unvereinbarkeit hinauszutreiben, wäre das selbst ein Beitrag zur Aufarbeitung. Doch Manfred Stolpes jüngste Äußerungen weisen in eine andere Richtung. Im sicheren Gespür für die gesellschaftliche Stimmungslage setzt er auf die reinen Maßstäbe politischer Überlebenskunst. Käme er damit durch, wäre nicht nur die Gauck-Behörde zur Unverbindlichkeit degradiert; auch die Debatte, welches Maß an belastender politischer Vergangenheit für den politischen Neubeginn noch verträglich erscheint, wäre entschieden. Ein Neuanfang aber, der sich der mühsamen gesellschaftlichen Erarbeitung der Maßstäbe entzieht, an denen sich der Bruch mit der Vergangenheit vollziehen soll, verspielt seine Überzeugungskraft. Daran könnten am Ende auch die Pragmatiker scheitern. Matthias Geis
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