KOMMENTAR: Selbst-Entlarvung
■ Biblis: Die Fortsetzung der Atomskandal-Serie
Nichts, aber auch gar nichts hat die bundesdeutsche Atomgemeinde gelernt – weder aus dem Reaktor-GAU von Tschernobyl noch aus dem Glaubwürdigkeits-GAU von Hanau. Sollte es daran irgendwo noch Zweifel gegeben haben, mit dem „Störfall“ von Biblis sind sie vom Tisch. Offenheit statt Geheimniskrämerei, Nachdenklichkeit statt Selbstgerechtigkeit: Wie erbärmlich hohl klingen seit heute die Parolen, mit denen die Atomgemeinde glaubte, die verlorenen Mehrheiten für eine weitere Nutzung der Atomenergie zurückgewinnen zu können.
Man stelle sich vor: Während bundesdeutsche Reaktorbauer im Ausland mit gönnerhaftem Gestus die Sicherheitsstandards der „sichersten Atomkraftwerke der Welt“ feilboten, während Bonner Reaktorminister internationale Abkommen zur gegenseitigen Information im Falle von Reaktorunfällen gleich in Serie unterzeichneten, vertuschten sie im In- und Ausland gemeinsam einen Störfall, der den Auslösern der Kernschmelze von Harrisburg auf fatale Weise ähnelt.
Die internationale Aufregung über die bundesdeutsche Geheimniskrämerei ist nur zu verständlich. Denn das „unmögliche Ereignis“ hätte so oder ähnlich auch in amerikanischen und französischen Druckwasserreaktoren ablaufen können. Vor die Alternative gestellt, den hochgeschraubten Sicherheitsnimbus bundesdeutscher Atomtechnik zu retten oder ein internationales Warnsignal auszusenden, entschied man sich für die klammheimliche „Tilgung“ der Angelegenheit.
Schließlich: Viele haben es gewußt und niemand hat geplaudert. Treffen die bis jetzt vorliegenden Informationen zu, wurde fast ein Dutzend Druckwasserreaktoren umgerüstet, fast ein Dutzend Betriebshandbücher entsprechend umgeschrieben. Die verantwortlichen Politiker müssen informiert gewesen sein. Reaktorminister Töpfer hat den zu Jahresbeginn angekündigten „tiefen Schnitt“ zur Genesung des Patienten Atomindustrie bis heute nicht angesetzt. Nun könnte es ein Schnitt ins eigene Fleisch werden.
Gerd Rosenkranz
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