KOMMENTAR: Drehschwindel
■ Jahr der Katastrophe
Italienische Volksfeste enden gewöhnlich mit der Tarantella, rasendem Tanz, Drehschwindel bis zur Erschöpfung, bis zum Frieden nach dem Fest; Beschleunigung, Drehschwindel, Erschöpfung gibt dieses Jahr am Ende. Doch mit einem Fest hatte es gewiß nichts gemein. Es war ein Jahr der Zeichen, des Aufstands der Elemente, der Revolte der Natur, vom Ozonloch bis zum Beben der Erde, von der Dürre bis zur Sintflut. Die Natur revoltiert gegen die Industriegesellschaft, und die Industriegesellschaft rächt sich an der Dritten Welt mittels der Natur. Aber die Zeichendeuter haben demissionieren müssen. Auch die Betroffenen, die ihre Sensibilität immer den anderen zumuteten, sterben aus. Jetzt sind schon Minister betroffen, und damit alle. Die Deutungen haben sich demokratisiert. Die Apokalypse spricht nicht mehr die Sprache der Propheten, sondern die Sprache der Sachbearbeiter, der Nachrichtenagenturen, der Pressesprecher – jedermanns Sprache.
Traditionelle Menschen sprechen deswegen vom Jahr der Katastrophen und zitieren den Feuerball von Ramstein bis zum Trümmerfeld von Spitak. Welch nostalgischer Gebrauch des Plurals. Wenn schon, dann muß vom Jahr der Katastrophe gesprochen werden, vom Jahr, in dem die Katastrophe Teil des Alltags wurde.
Verändern wir die Blickrichtung. Früher waren die Katastrophen belehrend. Sie entlarvten, deckten die Verhältnisse auf. Jetzt hat es einen Funktionswandel gegeben: Die Verhältnisse haben sich aufgedeckt, und die Katastrophen bestätigen nur noch, was längst alle sehen. Es war ein Fundi-Jahr. Aber die Fundis – in paradoxer Logik haben sich in dem Moment, wo die Wirklichkeit ihnen recht gibt, aussichtslos in ihrer eigenen Buchhaltung verstrickt. Die Horizonte brennen, und sie jammern, daß die Amtssessel heiß geworden sind.
Noch eine kleine Änderung der Blickrichtung. Wenn es das Jahr der Katastrophe ist, dann ist es genausogut auch das Jahr der Vernunft. Denn was bleibt den Menschen, die mühelos alle ihre selbstgeschaffenen Verhältnisse bis zum apokalyptischen Punkt verlängern können, als ihr eigenes Denken. Klassenanalyse, Widerspruch von Kapital und Arbeit, alles dahin. Da die gegenständliche Seite der menschlichen Verhältnisse revoltiert, wer kann da noch von Revolution reden? Die Wirklichkeit ist so, wie sich Klein-Fritzchen, als es noch in K-Gruppen die Massen agitierte, die Wirklichkeit vorstellte. Atomstaat, Stamokap, industriell –militärischer Komplex plus Endzeit. Sofort? Auf zum letzten Gefecht? Nein, der Kampf ging weiter, irgendwohin. Die Linke ist zur wichtigsten konservativen Kraft geworden und hat sich auf das florierende Second-hand-Geschäft von Ideologien geworfen. Auch das ist verdienstvoll. Denn wahrscheinlich haben wir nicht mehr die Zeit für die Hegelsche Dialektik der Weltgeschichte, derzufolge sich die Tragödien in der Farce wiederholen bis zur nächsten Tragödie. Deswegen ist der Ausverkauf gut, er macht den Kopf frei und die Ohren offen für die leise Stimme der Vernunft.
Gerade darum ist es auch ein Jahr von Gorbatschow; und nicht nur, weil er den Westen zum Zählen der Rüstungsgüter zwingt, die man nicht mehr zählen kann. Ein Zeichen ist es auch, daß so einfache, reformistische, lakonische Begriffe wie Perestroika und Glasnost die Weltsprache beherrschen. Das ist vielleicht das Erstaunlichste überhaupt, daß alle emphatischen Formeln gesellschaftlicher Utopien in Ost und West unterschiedslos verblaßt sind gegenüber diesen beiden Wörtern. Es ist die Politik, die am Überlebensinteresse, an der Besinnung ansetzt, antiutopisch und radikal. Dies ist das einzige Tempo, das mit dem Tempo der Katastrophen mithalten könnte. Und wenn nicht, so hat man daran wenigstens einen kurzen Halt beim Drehschwindel.
Klaus Hartung
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