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KOMMENTARZufrieden

■ Zum Tendenzbeschluß des Bundeskabinetts, die Visumpflicht für Polen aufzuheben

Wollen Sie, daß das westliche Europa von einer Migrationswelle aus dem Osten überschwemmt wird? Dann heben Sie die Visumpflicht für Polen auf“. Solches war noch vor wenigen Tagen auf einer öffentlichen Veranstaltung aus dem Mund eines Vertreters der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu hören. Was der Mann sagte, schien Regierungslinie zu sein. Selbst mit der Materie befaßte polnische Freunde erwarteten für einen absehbaren Zeitraum nicht mehr als die Zulassung des visumfreien kleinen Grenzverkehrs an Oder und Neiße. Auf die Gefahr hin, Lagerdisziplin und Feindbildzuweisung zu verletzen, begrüße ich den Tendenzbeschluß des Bundeskabinetts, noch in diesem Jahr die Visumpflicht für Polen aufzuheben. Plötzlich werden alle Argumente, die oft und vergeblich auch in dieser Zeitung für die Liberalisierung vorgebracht wurden, regierungsvereinnahmt. Umso besser! Jetzt hat auch Bonn erkannt, daß es kaum einen Unterschied macht, ob eine Handvoll hoffnungslos überarbeiteter Mitarbeiter an der Warschauer deutschen Botschaft pro Jahr eine Million Visa ausstellen oder ob man die Reiselustigen gleich ziehen läßt. Schwarz gearbeitet wird von den polnischen Touristen so oder so. Vielleicht hört unsere Regierung, nachdem sie sich bereits so lernfähig gezeigt hat, auch noch auf den Ratschlag, die Bandbreite legaler Beschäftigungen über die Hilfe bei der Weinernte hinaus zu erweitern. Aus der Baubranche liegen dringende Anfragen vor!

Was mag in Kohls Gemüt diesen humanitären Schub bewirkt haben? Hoffentlich wohlverstandenes Eigeninteresse, denn darauf kann man zählen. Zum Beispiel die Einsicht, daß es langfristig teurer kommt, Polen im Verhältnis zur CSFR und Ungarn systematisch zu benachteiligen und „abzuhängen“. Allen, denen die polnisch-deutsche Verständigung am Herzen liegt, wird jetzt die Arbeit leichter. Ist doch wenigstens eine der demütigenden Situationen aus der Welt geschafft, denen sich jeder Pole bei der „Reise nach Europa“ unterwerfen mußte. Und auch die Damen und Herren, denen die „Ästhetik“ polnischer Besuche in Westberlin ein Greuel war, können aufatmen. Für eine bessere Verteilung ist gesorgt. Bleibt noch das Hindernis des Schengener Abkommens. Aber auch über diese Hürde, die so oft als unüberwindbar dargestellt wurde, wird sich der Bundeskanzler leichtfüßig hinwegsetzen. Zufrieden: Christian Semler

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