KOMMENTAR: Wer bewegt die "Bürgergesellschaft"?
■ Kritisches Potential und Erkenntnisschranke in Weizsäckers Parteienschelte
Wer bewegt die „Bürgergesellschaft“? Kritisches Potential und Erkenntnisschranke in Weizsäckers Parteienschelte
Bisherige Interventionen des Bundespräsidenten zu den „großen Fragen“ deutscher Politik produzierten oft einen eigenartigen Zwiespalt der Gefühle. Respekt für einen Mann, der es wagt, seine eigene politische Klasse zu verraten, indem er „Probleme“ nicht verschiebt, umdeutet, umetikettiert, sondern bei ihrem schlichten Namen nennt: Verdrängung der nazistischen Vergangenheit, Ausländerhaß, Ausbeutung der dritten Welt. Ablehnung gegenüber der Aura moralischer und intellektueller Selbstgewißheit, der eindringlichen Mahnung, die stets ins Ungefähre abgleitet, wenn es darum geht, Verantwortliche festzunageln. Dem Präsidenten gelang es mehr als einmal, „Problembewußtsein“ zu erzeugen. Er war erfolgreich im schwierigen Geschäft der Sinnproduktion. Allerdings nicht auf eine Weise, die den öffentlichen Streit beförderte. Eher im Stil autoritär und in der Wirkung entlastend.
Seit einiger Zeit, genauer seit der deutschen Einheit, hat Weizsäcker dieses Geviert erhabener Folgenlosigkeit überschritten. Sein Einsatz für Berlin als Hauptstadt, der eigentlich Plädoyer für die Hinwendung zur DDR-Bevölkerung war, sein Vorschlag zum „Lastenausgleich“ gingen weit über das hinaus, was zwar nicht die Verfassung, aber eine um möglichst restriktive Interpretation der Kompetenzen des Präsidentenamts bemühte Politikergemeinde vorschrieb. Auch sein neuester Vorstoß im Gespräch mit Redakteuren der 'Zeit‘ nimmt auf eine Weise zum Thema der Parteienverdrossenheit Stellung, die eine grundsätzliche Kritik am „Parteienstaat“ mit einer Reihe konkreter, vorzugsweise plebiszitär orientierter Vorschläge verbindet. Fast wie ein später Schüler von Habermas ruft er zur Verteidigung der Lebenswelt gegenüber der Krake auf, die dabei ist, gesellschaftliche Phantasie und Pruduktivität abzuwürgen. Für die Einwohner der „neuen Länder“, denen das Parteiensystem der BRD umstandslos oktroyiert wurde, könnte sich diese Botschaft belebend auswirken — allerdings nicht unbedingt in dem von Weizsäcker gewünschten Sinn.
„Demokratische Bürgergesellschaft“ ist der zentrale Begriff in Weizsäckers Argumentation. Hier soll geschehen, was der Präsident den Parteien zumutet und dennoch nicht mehr von ihnen erwartet: „die Herausforderungen der Zeit zu erkennen und mit ihren Risiken und Chancen fertig zu werden“. Wer sollen die handelnden Subjekte dieser Bürgergesellschaft sein? Weizsäcker verweist auf hierarchisierte Großorganisationen, vor allem die Kirchen, die Gewerkschaften und die „Wissenschaft“, als Jungbrunnen des Denkens. Nur kraft ihrer Vorarbeit könnten gesellschaftliche Initiativen und Bürgerbewegungen aktionsfähig werden. Diese Bestimmung der Bürgergesellschaft verurteilt Weizsäckers Initiative von vornherein zur Sterilität. Sie stellt auch die gesellschaftlichen Realitäten in der Bundesrepublik seit den 70er Jahren auf den Kopf. Waren es nicht die sozialen Bewegungen, die in Konfrontation mit den genannten Institutionen die angestammten Wissens- und Interpretationsmonopole zerstörten, neues Bewußtsein massenhaft schufen — und dies noch dazu auf „dialogische“, „konstruktive“ Weise? Die Honoratiorengesellschaft der Synoden, der Universitäten sind es, die Weizsäckers Vorstellung des „Bürgers“ prägen. Dieser stabilen, konservativen Version der „civil society“ steht die unordentliche, labile, buntscheckige Wirklichkeit gesellschaftlichen Protests in der Bundesrepublik gegenüber. Laßt uns deshalb angesichts der „Machtversessenheit“ wie der „Machtvergessenheit“ des Parteiensystems auf diese Bürgergesellschaft etwas anderer Art hoffen! Christian Semler
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