KMK-Präsident über Schulsysteme: "Ich verteile überhaupt niemanden"
Der neue Präsident der Kultusministerkonferenz, Ludwig Spaenle (CSU), will die Durchlässigkeit des Schulsystems verbessern – und aus der Hauptschule eine Mittelschule machen.
taz: Herr Spaenle, Sie wollen sich als KMK-Präsident dafür einsetzen, dass jedes Land die gleichen Bildungsstandards einführt. Glauben Sie, das schaffen Sie in einem Jahr Amtszeit?
Ludwig Spaenle: Ich bin ein tief gläubiger Mensch. Ich glaube, dass man solche Prozesse vorantreiben muss. Die Standards gibt es bereits für mehrere Abschlüsse, jetzt müssen sie implementiert werden. Damit ich von Hamburg nach Berlin umziehen kann, ohne dass mein Kind durchfällt.
Der aktuelle bayerische Bildungsbericht zeigt, dass Bayern Deutscher Meister im Abschulen ist: Auf einen Schüler, der in eine höhere Schulform aufsteigt, kommen 11, die absteigen. Was macht Bayern da falsch, Herr Spaenle?
49, legte das Abitur am humanistischen Gymnasium in München ab und studierte Theologie und Geschichte. Er promovierte zu den bayerisch-griechischen Beziehungen des 19. Jahrhunderts. Seit 2008 ist der CSUler bayerischer Kultusminister und ab Freitag ein Jahr Präsident der Kultusministerkonferenz.
Das ist in dieser pauschalen Form nicht richtig. Wir haben einen Anteil von 40 Prozent jungen Menschen, die pro Jahrgang ihre Hochschulzugangsberechtigung nicht übers Gymnasium erreichen. Wir haben neben dem klassischen Abitur 15 Möglichkeiten, die Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben. Aber selbstverständlich wollen wir leistungsbezogene Auf- und Abstiege in den Fokus nehmen und wollen die Schüler noch stärker auf ihrem Weg begleiten.
Also, was wollen Sie ändern?
Der Staat soll und muss sich an den Übergängen stärker engagieren. Ganz konkret: Wir haben ein Modell "Lotse im Übertritt". Das heißt, wir haben mehrere hundert Grundschullehrer, die an weiterführenden Schulen, etwa am Gymnasium oder an der Realschule, in der Unterstufe tätig sind und die Schüler unterstützen. Dieses System wollen wir weiterentwickeln.
Sie stärken personell also das mehrgliedrige Schulsystem. Der Hamburger CDU-Bürgermeister Ole von Beust hat dieses kürzlich als ständisch gebrandmarkt. Irrt er?
Ole von Beust, den ich sonst sehr schätze, ist da der Linken auf eine jahrzehntelang ausgelegte Leimrute gegangen. Wenn ich das dreigliedrige Schulsystem für ständisch halte, habe ich den klassenkämpferischen Ansatz der anderen Seite internalisiert. Das ist politisch bedauerlich.
Wie bezeichnen Sie denn die Tatsache, dass ein Akademikerkind fünfmal bessere Chancen hat, das Gymnasium zu absolvieren, als jemand, dessen Eltern als Arbeiter gelten?
Wir haben ein vielgliedriges Schulsystem, dessen Durchlässigkeit weiter verbessert werden muss. Wir haben in Bayern da unsere Hausaufgaben zu machen. Wir können aber durchaus darauf verweisen, dass die Abkoppelung der Bildungsabschlüsse von einer bestimmten Schulart auf einem guten Weg ist. Das ist ja der indirekte Faktor für Durchlässigkeit. Ich definiere das als Handlungsfeld, wo wir eine nicht befriedigende Situation verbessern müssen.
Die Übergangsquote von jungen Türken aufs Gymnasium beträgt in Bayern 11 Prozent, die von Deutschstämmigen 39 Prozent. Wie wollen Sie das ändern?
Wir wollen den Anteil derer, die auf anderen weiterführenden Schulen ihren Weg nehmen, steigern. Gleichzeitig verbessern wir die Schulart, die im Moment noch für gut die Hälfte der Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Bildungsheimat ist.
Die Hauptschule soll künftig Mittelschule heißen. Ein Versuch zur Rettung?
Mir wird Etikettenschwindel unterstellt. Aber das ist nicht der Fall. Wir setzen mit der Mittelschule auf einen Anreizprozess: Wir wollen einen weiterentwickelten mittleren Abschluss anbieten und zusätzliche Förderelemente flächendeckend zur Geltung bringen. Jede Mittelschule hat Ganztagsangebote.
Gut. Aber glauben Sie, das überzeugt die Eltern, die sich gerade in Scharen von der Hauptschule abwenden?
Hier geht es nicht um "glauben". Das eine ist das Wahlverhalten der Eltern; dem kann man inhaltlich ein Stück entgegenwirken. Ich halte es geradezu für eine Pflicht, dass ich für ein Drittel der Schüler, oder vielleicht perspektivisch für ein Viertel, ein Kernschulangebot vorhalte, dass den Ansprüchen insbesondere der Vorbereitung auf die duale Ausbildung gerecht wird. Aber das andere ist die Demografie: Die Schülerzahlen sinken, es droht eine Abnahme von rund 250.000 auf rund 200.000 Schüler. Wir haben 1.000 Hauptschulstandorte, davon sind 300 einzügig. Wir wollen möglichst viele von denen weiterentwickeln und erhalten, weil wohnortnahe Schulen ein Stück Lebensqualität sind. Aber das ist teuer.
Können Sie es sich denn leisten, angesichts zurückgehender Schülerzahlen weiterhin Schüler auf drei Schulformen zu verteilen?
Ich verteile überhaupt niemanden, lassen Sie mich das sehr deutlich sagen, schon gar nicht auf drei Schularten. Wir haben eine breite Palette von Angeboten, die dem Einzelnen eine optimale Ausschöpfung seiner Talente und Begabungen eröffnen sollen.
Optimale Ausschöpfung? Fast 4 von 10 Hauptschülern können in der 9. Klasse gerade mal auf Grundschulniveau lesen.
Wenn ich mir die Hauptschulen in Ballungszentren anschaue, sehe ich es als zentralen bildungspolitischen Auftrag für diese Schulart, dass sie unseren Schülerinnen und Schülern ein niederschwelliges Bildungsangebot macht, das auch zu weiterführenden Abschlüssen führt. Gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Wir bauen die Sprachförderung aus, wir haben ein eigenes Programm zur Integration und schulischen Bildung, wir haben einen landesweiten Modellversuch, der Islamunterricht in den Regelunterricht einbettet. Ihre Einschätzung von der Leistungsfähigkeit unserer Hauptschüler ist sicherlich falsch.
Aber mit dieser Strategie zementieren Sie doch die Teilung - Haupt- und Mittelschulen für Migranten, Gymnasium für die deutsche Mittelschicht?
Überhaupt nicht. An allen Schulen findet individuelle Förderung statt. In der Grundschule gehen wir einen anderen Weg. Wir wollen in der Grundschule erste und zweite Klasse jahrgangskombiniert unterrichten, ein reformpädagogischer Ansatz. Das ermöglicht es, dass Kinder ein, zwei und ohne sitzenzubleiben auch drei Jahre im sozialen Verband lernen können.
Könnten Sie sich auch vorstellen, die Grundschulzeit auf sechs Jahre auszudehnen?
Ich halte bildungspolitische Maßnahmen, die für alle dasselbe fordern, für Retropädagogik.
Ihre bayerische Grundschule ist also reform- und retropädagogisch?
Das einzelne Kind soll die bayerische Grundschule so lange in Anspruch nehmen, wie es sie braucht. Aber wir müssen uns von dem Denken befreien, dass wir mit organisatorischen Maßnahmen, die für eine Kohorte eines Jahrgangs dasselbe vorschreiben, den Ansprüchen einer sich weit ausdifferenzierenden Schülerschaft in Zukunft gerecht werden.
Wenn Sie Differenzierung mit früher Auslese auf verschiedene Schulformen gleichsetzen, stehen Sie gegen den Trend, der sich gerade in Deutschland abzeichnet: Schüler länger gemeinsam fördern.
Als tief Überzeugter mit einem bildungspolitischen Auftrag mag das so sein.
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