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Archiv-Artikel

KLIMASCHUTZ: WIE NICHTSTUN SCHÖNGERECHNET WIRD Die Macht der kleinen Zahl

VON BERNHARD PÖTTER

Mensch, ich versteh das nicht!“, seufzt meine Tochter. Sie sitzt am Küchentisch und hebt den Blick von ihrer Hausarbeit. Mathematik, achte Klasse. Lineare Funktionen. Ich verschanze mich hinter meiner Lektüre. Früher dachte ich, das Schlimmste an Kindern seien die Elternabende in der Kita. Aber das war nichts gegen die Qualen von Mathematik, die man als Vater erklären soll.

Meine Lektüre heißt: „Umsteuern in der Energiepolitik“. Eine Broschüre der Kohle-Gewerkschaft IG BCE, die erklärt, warum wir am besten gar nichts mehr tun in der Klimapolitik. „Deutschlands Anteil an den weltweiten Treibhausgasemissionen beträgt gerade einmal 2,5 Prozent“, schreiben die Aufklärer mit der Spitzhacke. Ob und wann wir unser Klimaschutzziel erreichen, „ist für den weltweiten Klimaschutz zweitrangig.“

Die Logik ist bestechend. Und viele in den Gewerkschaften, der Industrie oder in der CDU NRW, lassen sich gern so bestechen. Es stimmt ja: Was ändern 2,5 Prozent? Ob wir ein paar alte Braunkohlemöhren weiterqualmen lassen, fällt doch gar nicht auf, wenn die anderen 97,5 Prozent der Welt ihre Kohlemeiler abschalten. Endlich mal ein innovativer Ansatz, der die Blockade bei den Klimaverhandlungen auflösen könnte. Denn wenn wir als sechstgrößter Produzent von Klimakillern konsequent nichts tun, heißt das natürlich für die 186 Staaten, die weniger CO2 als wir ausstoßen, ebenfalls dolce far niente. Dann bleiben nur die furchtbaren fünf – China, USA, Indien, Russland, Japan –, die wir natürlich gehörig unter Druck setzen. Oder nein, noch besser: Wenn sich die großen Klimaschweine nach der neuen Logik in Einzelstaaten und Provinzen herunterrechnen, stößt niemand mehr so viel Treibhausgase aus, dass er irgendetwas tun muss.

Der Grundsatz „Unser kleiner Beitrag hilft ja eh nichts“ löst viele andere Probleme: Steuern zahlen etwa – ach Gott, meine paar Euro sanieren nun wirklich kein Schulklo. Spenden für die Opfer von Naturkatastrophen? Mit der Zeche für meine paar Biere heute Abend hebt doch kein Hubschrauber mit Milchpulver ab! Oder auch: Wählen gehen? Hallo? Ich habe doch höchstens zwei Stimmen auf diesem Zettel! Wie soll ich denn da etwas bewirken, wenn Millionen andere auch ihre Kreuzchen machen?

Solange es irgendwo noch jemanden gibt, der weniger tut als wir, ist das immer ein guter Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Gegen das Gesetz der großen Zahl, das die Kapitalisten gern zitieren – wenn etwa die Massenproduktion von Solaranlagen deren Preis so weit drückt, dass niemand mehr Kohle braucht –, setzen wir bewusst die Macht der kleinen Zahl: Wir sind klein und machtlos. Undenkbar, dass eine kleine Berufsgruppe durch einen Streik etwa ein ganzes Land lahmlegen kann.

Unsere Vordenker von der IG BCE, mit ihren 661.000 Mitgliedern immerhin die drittgrößte Gewerkschaft in Deutschland, machen gerade mal 0,82 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Die Stimme der Vernunft hat da ein Gewicht, das ihrer Bedeutung angemessen ist – ähnlich bedeutungsvoll wie Kasachstan bei den Klimaverhandlungen.