KEINE MEHRHEIT FÜR EINE ZWEITE AMTSZEIT VON PRÄSIDENT DEMIREL: Die Krise als Chance
Es ist schwer zu verstehen, wie ein so erfahrener Politiker wie Bülent Ecevit sich durch eigene Sturheit so in Bedrängnis bringen konnte. Was für alle im Land längst offenkundig war, wollte allein Ecevit nicht wahrhaben. Für die Verlängerung der Amtszeit von Präsident Demirel gab es weder im Parlament noch in der Bevökerung eine Mehrheit. Jetzt ist der Ministerpräsident geschwächt, die regierende Dreierkoalition hat keinen einheitlichen Präsidentschaftskandidaten, und die eigentliche Arbeit der Regierung bleibt liegen.
Dabei sollte genau das verhindert werden. Eines der wichtigsten Argumente Ecevits für Demirel war Kontinuität, um sich in der derzeitigen kritischen Situation des Landes ganz auf die eigentlichen Probleme konzentrieren zu können. Die Türkei muss nach den verheerenden Erdbeben des letzten Jahres dringend ihre Finanzen sanieren, um wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, das Land muss nach der Verurteilung von Abdullah Öcalan endlich zu einem Ausgleich mit der kurdischen Minderheit kommen, und, um die Annäherung an die EU fortzusetzen, es müssen Reformen im Justiz- und Polizeibereich durchgesetzt werden. Das wird nun auf Eis gelegt.
Das Dilemma um die Präsidentschaftswahl kann nun dazu führen, dass die politische Klasse des Landes sich lahm legt und eine echte Krise provoziert. Spätestens in zehn Tagen müssen die Kandidaten für das höchste Staatsamt benannt sein, dann wird im Parlament gewählt. Bekommt nach maximal vier Wahlgängen kein Kandidat die erforderliche Mehrheit, wird das Parlament aufgelöst, und es gibt Neuwahlen. Die Alternative liegt auf der Hand. Der misslungene Versuch, Demirels Amtszeit fortzuschreiben, könnte als Katalysator für eine personelle Erneuerung der türkischen Politik dienen. Die uralte Garde muss nun abtreten und Platz machen für Politiker, die noch nicht in Grabenkämpfen verschlissen oder durch Korruptionsskandale diskreditiert sind. Voraussetzung ist, dass Ecevit sich an einem solchen Prozess beteiligt und dann rechtzeitig seinen Platz räumt.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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