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„Justizskandal“ beendet Pariser Bluterprozeß

■ Milde Urteile gegen Verantwortliche für HIV-infizierte Bluttransfusionen

Paris (taz) – „Banditen!“ Den Tränen nahe, beschimpft die alte Frau das Gericht. Die Mutter eines HIV-infizierten Jungen beginnt zu skandieren, um ihrer Wut und ihrem Schmerz Luft zu machen: „Der Staat ist mörderisch, die Justiz ist sein Komplize“, ruft sie und stampft mit dem Fuß den Takt. Etwa 30 Gendarmen sichern den Saal, die Männer schauen betreten vor sich hin. Keiner versucht, die Frauen zum Schweigen zu bringen.

Alle Kläger empfinden das Urteil als ungerecht, das gestern in Paris über vier Verantwortliche der Bluttransfusion verhängt wurde. Die Funktionäre standen vor Gericht, weil Frankreichs Blutern bis Oktober 1985 wissentlich Blutkonserven gegeben wurden, die mit dem HIV-Virus verseucht waren. 1.250 Hämophile wurden dadurch infiziert, an die 300 sind bereits an Aids gestorben. Die Urteile sind mild: Wegen „Täuschung über die Qualität einer Ware“ wurde der ehemalige Leiter des Nationalen Transfusionszentrums, Michel Garretta, zu vier Jahren Gefängnis und 150.000 Mark Geldstrafe verurteilt. Sein Forschungsleiter Jean-Pierre Allain erhielt vier Jahre Haft, davon zwei auf Bewährung. Der frühere Chef der staatlichen Gesundheitsbehörde, Professor Jacques Roux, kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Der Ex-Chef des Nationalen Gesundheitslabors, Robert Netter, wurde freigesprochen.

Garretta hat sich schon in die USA abgesetzt. Er kann nur eingesperrt werden, falls er freiwillig zurückkommt. Die internationalen Verträge lassen kein Auslieferungsverfahren zu, weil ihm das Gericht kein „Verbrechen“, sondern nur ein „Vergehen“ zur Last gelegt hat.

Die Bluter und ihre Familien wollen weiterkämpfen. „Die Affäre ist noch nicht zu Ende“, beteuerte Edmond Luc Henry, 42, der erst 1985 auf Drängen seiner Ärzte eine Prophylaxe mit den verseuchten Blutderivaten begann. „Das Wichtigste an diesem Urteil ist, daß die Schuld der Verurteilten feststeht. Jetzt kann niemand mehr, wie es die Verteidigung getan hat, von einem therapeutischen Unfall sprechen. Statt dessen gilt ihr Handeln heute als Verbrechen.“ Die Anwältin Sabine Paugam spricht von einem Justizskandal. Das Gericht hat ihre Klage wegen „Vergiftung“ abgelehnt; sie will sofort in die Berufung gehen.

In den Urteilen kommt nicht zum Ausdruck, was der Prozeß unzweifelhaft zutage gebracht hat: das völlige Versagen einer ganzen medizinischen Abteilung und ihrer politischen Verwaltung. Zahlreiche Ärzte hatten in den Verhandlungen zugegeben, daß sie sich vor ihrer Verantwortung gedrückt haben. Hohe Funktionäre beteuerten, sie seien lediglich unbedeutende Aktenkofferträger. Der frühere Gesundheitsminister Hervé hatte vor Gericht bekannt: „Am 20. Juni 1985 wußte ich über die Verseuchung der Blutprodukte Bescheid.“ Er akzeptiere die Verantwortung für den Beschluß, wonach die tödlichen Konserven bis zum 1. Oktober 1985 von der Krankenkasse erstattet wurden. Zum völligen Unverständnis der Opfer wurde Hervé nicht angeklagt.

Auch die Fachärzte wurden nicht verfolgt, die den Blutern falsche Sicherheit vorgegaukelt und ihnen die Blutpräparate verschrieben hatten. Die Eltern von zwei infizierten Jungen, von denen einer bereits gestorben ist, können sogar nachweisen, daß ihre Fachärztin die Kinder ohne Wissen der Eltern ständig auf Seropositivität untersucht hatte. In einem Punkt sind sich Kläger und Verurteilte daher einig: Garretta, Allain und Roux sind Sündenböcke, die das wahre Ausmaß des Skandals vertuschen sollen. Bettina Kaps

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