Justiz-Fortsetzungsgeschichte: Ciftlik-Prozess geplatzt
Strafverfahren gegen Ex-SPD-Politiker wird ausgesetzt – weil der noch in Indien festsitzt. Nach seiner Rückkehr beginnt der Prozess von vorne.
Nach eineinviertel Jahren Verhandlungsdauer ist das Strafverfahren gegen den ehemaligen Bürgerschaftsabgeordneten und Sprecher der Hamburger SPD, Bülent Ciftlik, 41, vor dem Landgericht endgültig geplatzt. In Abwesenheit des Angeklagten stellte Richter Rüdiger Göbel fest: „Es gibt keine andere Möglichkeit, als das Verfahren auszusetzen.“ Die taz erklärt die Hintergründe:
Was heißt Verfahrensaussetzung?
Zurück auf Los. Das seit Februar 2012 laufende Strafverfahren muss komplett neu aufgerollt, sämtliche Beweisanträge müssen neu gestellt, alle Zeugen erneut vernommen werden.
Warum das alles?
Ciftlik wird seit Mitte März von den indischen Behörden festgehalten, weil er in einen Autounfall verwickelt sein soll. Da ihm sein Pass abgenommen wurde, kann er nicht ausreisen, wohnt in einem Hotel im nordindischen Patiala. Die Strafprozessordnung aber sieht vor, dass eine Hauptverhandlung nur für höchstens 30 Tage unterbrochen werden darf.
Warum ist der Prozess dann erst jetzt geplatzt?
Aus Sicht der Verteidigung hätte das Verfahren schon im April beendet werden müssen. Die Kammer aber verlängerte mithilfe juristischer Spitzfindigkeiten die Frist, fing sich dafür herbe Kritik von Cifliks Anwaltsteam ein – und einen Befangenheitsantrag, der aber abgelehnt wurde. Sie hätte das Verfahren auch ohne Ciftlik fortführen können, wenn sie ihm hätte eigenmächtiges Fernbleiben nachweisen können. Das lasse sich aber, so Richter Göbel jetzt, „nicht mehr innerhalb eines absehbaren Zeitraums zuverlässig ermitteln“.
Ist sowas nicht teuer?
Wie hoch die Kosten des geplatzten Verfahrens sind und wer sie trägt, sei noch nicht klar, erklärte Gerichtssprecherin Ruth Hütteroth. Ciftlik drohen durch die Verfahrens-Dublette erhöhte Anwaltskosten.
Und wie geht es weiter?
Sobald Ciftlik wieder zurück in Deutschland ist, kann das Verfahren neu aufgerollt werden. Ob dieselbe oder eine andere Strafkammer das Verfahren leitet, ist noch unklar. Zudem erreicht der Vorsitzende Richter Rüdiger Göbel im kommenden Jahr die Pensionsgrenze – er würde das Ende der Neuansetzung vermutlich nicht mehr im Amt miterleben.
Was sagt Ciftliks Verteidigung?
„Das Gericht hat sich endlich der objektiv vorliegenden Einsicht gebeugt, dass die Fortsetzung des Verfahrens alle Rechte des Angeklagten verletzt“, kommentiert Anwältin Gabriele Heinecke die Aussetzung. Ihr Kollege Florian Melloh nannte eine Weiterführung des Verfahrens als „reine Willkür“ ohne jede rechtliche Grundlage.
Und was sagt die Anklage?
Staatsanwalt Michael Elsner hält die Eigenmächtigkeit des Fortbleibens Ciftliks für erfüllt: Der Angeklagte könne sofort aus Indien ausreisen, wenn er die geforderte Schadenssumme von knapp 10.000 Euro bezahle. Eine Rechtsauslegung, der sich das Gericht gestern ausdrücklich nicht anschloss: Keinem Angeklagten dürfe zugemutet werden, dass er die Fortsetzung eines gegen ihn gerichteten Verfahrens auf diese Art und Weise mit betreibe.
Worum geht es im Ciftlik-Prozess überhaupt?
Ursprünglich wurde Ciftlik die Vermittlung einer „Scheinehe“ vorgeworfen, für die er 2010 erstinstanzlich zu einer Geldstrafe von 12.000 Euro verurteilt wurde. Im Laufe des Verfahrens aber tauchten gefälschte Beweismittel auf. Auch machten Zeugen Aussagen, die sie inzwischen widerriefen. Diese Verfahrensmanipulationen legt die Staatsanwaltschaft Ciftlik zur Last. Wird er verurteilt, droht ihm eine mehrjährige Haftstrafe, wobei die lange Verfahrensdauer sich strafmildernd auswirken kann, aber nicht muss. MARCO CARINI
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen
Das hat Erpresserpotenzial
Friedenspreis für Anne Applebaum
Für den Frieden, aber nicht bedingungslos
BSW in Sachsen und Thüringen
Wagenknecht grätscht Landesverbänden rein
Rückkehr zur Atomkraft
Italien will erstes AKW seit 40 Jahren bauen
Klimaschädliche Dienstwagen
Andersrum umverteilen
Tech-Investor Peter Thiel
Der Auszug der Milliardäre aus der Verantwortung