Junge Pastorin über ihren Job: „Gott ist für mich nicht allmächtig“
Pastorin Jil Becker hat ihre Gemeinde aufgegeben und kümmert sich nun um Nachwuchs-Pastor*innen. Ein Gespräch über das Glauben und das Zweifeln.
taz: Frau Becker, bin ich eine scheinheilige Christin, wenn ich nur zu Weihnachten in die Kirche gehe?
Jil Becker: Überhaupt nicht, ich finde das völlig in Ordnung! Es gibt ja einen eigenen Begriff dafür: U-Boot-Christen. Also Menschen, die nur zu den großen Festen in die Kirche kommen. Ich finde diesen Begriff ganz schrecklich. Und ich finde es schade, wenn Menschen sagen, sie gehen „nur“ zu Weihnachten in die Kirche.
Warum?
Weil das nicht wenig ist! Im Gegenteil, das ist häufig und das sind die wichtigen Tage im Jahr, die sie so verbringen möchten. Das ist doch super! Natürlich bin ich froh, wenn immer die Hütte voll ist, gar keine Frage. Aber das muss jeder und jede für sich selbst entscheiden. Jeder und jede, der in der Kirche ist, gestaltet seinen oder ihren Glauben, wie er oder sie es will. Und zwar aus guten Gründen. Wer bin ich, dass ich darüber richten könnte?
Die Hütte ist oft nicht voll. Ist es nicht manchmal frustrierend, auf die leeren Kirchenbänke zu schauen?
Ach nein, ich weiß ja, wer da sitzt und warum diese Menschen gekommen sind. Das ist manchmal sogar sehr innig. Ich bin nach jedem Gottesdienst sehr erfüllt, ob da viele sitzen, oder nur ganz wenige. Das Gefühl danach bei mir ist dasselbe.
Sind Sie eigentlich besonders christlich erzogen worden?
Nein, ich komme aus einer ganz volkskirchlichen Familie. Sonntags Gottesdienst? Ich wüsste nicht, dass wir da waren. Aber es gab in meiner Familie leider viele Todesfälle und wenn jemand gestorben ist, dann war klar, dass der Pastor oder die Pastorin die Beerdigung leiten würde. Wenn ein Kind auf die Welt gekommen ist, wurde es getauft. Es war einfach immer klar, wer der Pastor ist und dass die Kirche immer offen steht.
So wachsen einige Menschen auf, werden dann aber nicht Pastorin oder Pastor. Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich überhaupt für diesen Beruf interessiert haben?
Ich glaube, bei mir hatte das viel mit Personen zu tun. Wenn ich das Gebet meiner Mutter am Kinderbett nicht gehabt hätte, wäre es vielleicht anders gekommen. Das war ein sehr intimer, innerlicher und zarter Kinderglaube, der mir beigebracht wurde und der dann durch unterschiedliche Menschen gewachsen ist.
Menschen außerhalb der Familie?
Ja. Ich hatte einen ganz tollen Pastor in meiner Jugend. Er hat tolle Jugendarbeit gemacht und ich dachte: So ist Kirche? So ist ein Pastor? Cool! Dann kam noch eine gute Religionslehrerin dazu. Sie hat mir immer mal wieder Texte von Dorothee Sölle gegeben, einer eher linkspolitischen Theologin. Ich war damals schon eher links orientiert und habe mich gefragt, wie Politik und Glaube zusammen funktionieren können. Mit Sölles Texten habe ich gemerkt, dass das geht. Ich glaube, besonders ihre Texte haben dafür gesorgt, dass ich mich in der Oberstufe entschieden habe, Theologie zu studieren.
33, ist in Unna geboren, hat Evangelische Theologie in Münster studiert und ist für ihr Vikariat in Farmsen-Berne nach Hamburg gezogen.
Seit 2013 war sie Gemeindepastorin in Hamburg in der Kreuzkirche Wandsbek.
Im März 2018 wechselte Becker in eine Funktionspfarrstelle der Nordkirche, ist dort nun Pastorin für Nachwuchsförderung und Studierendenbegleitung.
Sie wohnt in Hamburg-Uhlenhorst.
Wie hat Ihre Familie darauf reagiert?
Die waren erst einmal ziemlich erstaunt und haben wahrscheinlich gedacht, dass ich das nicht durchziehe. Aber jetzt sind sie sehr stolz auf mich.
Sind Sie in Ihrer Familie nun die Pastorin, die bei den wichtigen Ereignissen dabei ist?
Nein, bisher noch nicht. Aber ich habe eine sehr gute Schulfreundin in meiner alten Gemeinde in Unna getraut. Das war natürlich der Knaller.
Wie reagieren die Menschen auf Ihren Beruf, wenn Sie sie außerhalb Ihrer Arbeit kennenlernen?
Das ist sehr interessant, ich habe wirklich alles schon erlebt!
Zum Beispiel?
Einmal ist jemand einfach aufgestanden und gegangen. Die verrückteste Geschichte ist aber eigentlich, dass jemand in einer Kneipe zu mir gesagt, er fände es nicht gut, dass ich feiern gehe. Eine Pastorin sollte seiner Meinung nach nicht in Kneipen gehen.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe ihn gefragt, was er für ein Bild von der Kirche hat. Ich bin ja keine Nonne! Es gibt so viele junge Menschen in der evangelischen Kirche. Da erstaunt es mich manchmal, wie lang sich so antiquierte Bilder halten können.
Das klingt, als sei Ihr Beruf auch manchmal eine Bürde.
Eine Zeit lang hat mich so etwas schon sehr gestört und ich habe mir jedes Mal gut überlegt, ob ich meinen wahren Beruf nenne. Aber mittlerweile komme ich gut damit zurecht und gehe auch offen damit um. Ich glaube, dass Kirche den Menschen auch am meisten Freude macht, wenn sie ihr einfach so begegnen. Beim Einkaufen, beim Frisör, oder eben am Tresen. Und wenn ich mal einen schweren Tag hatte, dann sage ich einfach ganz offen, dass ich heute mal nicht über die Arbeit sprechen möchte und schlürfe weiter meine Limo.
Nach mehr als vier Jahren haben Sie nun Ihre Gemeinde in Wandsbek aufgegeben und eine neue Stelle angetreten. Warum?
Eigentlich hat mich nur die Attraktivität meiner neuen Stelle dazu bewogen. Diese Stelle wurde auf acht Jahre neu vergeben. Wenn ich mich jetzt nicht beworben hätte, hätte ich in den nächsten acht Jahren keine Chance darauf gehabt.
Sie sind nun für die Nachwuchsförderung der Nordkirche zuständig. Wie begeistert man junge Leute für den PastorInnenberuf?
Das geht vor allem über Netzwerke. Ich kann leider nicht alle 350 im Bereich der Nordkirche liegenden Schulen mit Oberstufe besuchen. Aber ich habe meine Stelle von einer Vorgängerin übernommen, die schon großartige Vorarbeit geleistet hat. Es gibt beispielsweise das Wegweiser-Wochenende, bei dem ich dabei sein werde. Da kommen hauptsächlich Abiturientinnen und Abiturienten zusammen, um ins Theologiestudium reinzuschnuppern. Wir halten da kein Referat über die Inhalte des Studiums. Es geht mehr darum, dass die Jugendlichen schon einmal einen Einblick in Kirchengeschichte, Dogmatik, all diese Inhalte des Studiums bekommen. Wir möchten dort auch aufzeigen, wie viele verschiedene Arbeitsfelder das Studium eigentlich ermöglicht. Es gibt unglaublich viele Fortbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten innerhalb der Kirche – Organisationsentwicklung, Pressearbeit – all das wollen wir den Jugendlichen nahebringen.
Aber dorthin kommen nur Jugendliche, die sich wenigstens schon ansatzweise für ein Theologiestudium interessieren. Wie sorgen Sie dafür, dass es überhaupt so weit kommt?
Das geht natürlich nur über die Menschen, die direkt mit den Jugendlichen zu tun haben, also Lehrer, Erzieher und so weiter. Ich kann nur dafür sorgen, dass diese Menschen die Augen offen halten. Und wenn Sie Jugendliche kennen, von denen sie denken, dass das Theologiestudium etwas für sie ist, ihnen unseren Flyer in die Hand drücken. Ich habe damals selbst solch einen Flyer von meiner Religionslehrerin bekommen. Sie sagte: Ich glaube, das wäre etwas für dich. Das hat mich unglaublich motiviert und deshalb habe ich an so einem Wochenende teilgenommen.
Ihr neuer Job beinhaltet viel Schreibtischarbeit. Fehlt Ihnen die Nähe zu den Menschen Ihrer Gemeinde manchmal?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe das große Glück, noch einige Trauungen zu haben und wurde auch für ein paar Taufen angefragt. Das sind natürlich die Menschen, die mich noch aus der Zeit als Gemeindepastorin kennen. Ich finde es absolut bereichernd, aus dem einen Job nicht raus zu sein und den anderen schon zu machen. Deswegen bin ich eine große Freundin davon, Gemeindepfarramt und Funktionspfarramt nicht strikt zu trennen.
Beim Funktionspfarramt arbeitet man in der kirchlichen Verwaltung. Dies mit dem Gemeindepfarramt zu verbinden, ist auch die Idee der Projektgruppe U45, in der Sie Mitglied sind.
Genau. Der Kirchenkreis Hamburg-Ost hat das Projekt ins Leben gerufen, weil die Kirche in der Zukunft einige Herausforderungen zu bewältigen hat. Zum Beispiel einen Mangel an Pastorinnen und Pastoren. Und wir wollten nicht nur darüber jammern, sondern überlegen, wie wir auch in Zukunft eine sehr gute Kirchenarbeit gewährleisten können. Und ein Ergebnis ist die Idee des Kugellagermodells. Das heißt, dass Gemeindepfarramt und Funktionspfarramt eben nicht mehr strikt getrennt sind, sondern das Pfarramt grundsätzlich verschiedene Aufgaben beinhaltet.
Diese Idee kratzt an der grundsätzlichen Organisation der Institution Kirche. Stoßen Sie da nicht manchmal auf Widerstände?
Ich glaube, in den heutigen Zeiten der Kirche gibt es Entscheidungen zu treffen, die vielleicht unpopulär, aber richtig sind. Bei vielen Menschen sind wir auf offene Ohren gestoßen. Mit Sicherheit gefallen unsere Ideen nicht allen. Aber es ist nötig, etwas zu verändern, damit wir auch in Zukunft eine gute Kirche sind. Es ist ja nicht so, dass wir uns verstecken müssten, wir haben ja was zu bieten.
Sie wirken sehr selbstbewusst und begeistert für das, was Sie tun. Was treibt Sie an?
Einführungsgottesdienst für Pastorin Jil Becker: 2. Juli, 18 Uhr, Ratzeburger Dom
Meine Leidenschaft für die Menschen und meine Leidenschaft für den Glauben. Ich bin überzeugt, dass der Glaube vielen Menschen Kraft gibt. Auch mir hat er viel Kraft gegeben. Ich habe mit der Institution keine Probleme, weil ich weiß, wofür sie steht.
Wofür steht sie?
Für mich steht sie für Halt im Leben, für eine Gemeinschaft. Das heißt nicht, dass alle im Stuhlkreis sitzen und sich jeden Tag treffen müssen. Es geht eher um eine höhere Gemeinschaft. Wenn ich zu Hause alleine bete, weiß ich, dass ich mit dieser Gemeinschaft verbunden bin, unsichtbar.
Ihre eigene Familie musste einige Schicksalsschläge erleben. Haben Sie deshalb nie an Ihrem Glauben gezweifelt?
Ich zweifle jeden Tag, ich würde sogar sagen, dass 80 Prozent meines Glaubens aus Zweifeln bestehen. Natürlich habe ich mich auch gefragt, warum mein Vater so früh sterben musste. Ich höre auch in den Seelsorgegesprächen häufig die Frage, warum Gott so etwas zulässt.
Und wie gehen Sie mit diesen Zweifeln um?
Eines der einleuchtendsten Erlebnisse meines Studiums war ein Text von Martin Luther. Er hat gesagt, dass Zweifel eine Dimension von Glauben sind. Zweifel liegen also nicht außerhalb, sondern sind ein Teil des Glaubens. Das hat mir sehr geholfen. Ich habe Gott die Dinge, die mir und meiner Familie passiert sind, aber auch nie angelastet. Gott ist für mich nicht allmächtig, jedenfalls nicht in dem Sinne, als dass er beeinflussen könnte, ob jemand an Krebs erkrankt oder nicht. An solche Wunder glaube ich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“