Jugendtheaterfestival in Berlin: Ein Asyl für die Puppen
Wie lernt man Mitbestimmung? Wie übt man Empathie? Das Festival „Augenblick mal!“ für Jugendtheater verhandelt in Berlin ernste Themen.
![](https://taz.de/picture/3432488/14/Besuchszeit_c_Marco_Prill__1_.jpeg)
Plötzlich bekommt eine der Puppen wieder eine Stimme und schreit: „Besuchszeit ist vorbei!“, und fordert so alle auf, die Halle Ostkreuz zu verlassen. Viele Menschen aber bleiben.
Inzwischen ist eine Puppe in einem Pulk von ZuschauerInnen versteckt worden, eine zweite fand wenig später sogar offenes Asyl im Schoß einer Zuschauerin, und dann wurde eine Plattform sprichwörtlich besetzt, sodass sie von den SpielerInnen nicht mehr benutzt werden konnte.
Nach der Vorstellung nehmen die ZuschauerInnen die Puppen zärtlich in ihre Hände und geben ihnen einen würdevollen Platz im Raum. Das Stück „Besuchszeit ist vorbei“ wurde von dem israelischen Regisseur Ariel Doron am theater junge generation Dresden entwickelt und wird für ein Publikum ab 16 Jahren empfohlen. Dorons Inszenierung fordert zu kollektivem empathischem Handeln von unten auf.
Fünf KuratorInnen haben die Dresdener Versuchsanordnung zu dem Festival „Augenblick mal!“ eingeladen, das am Sonntag, 12. Mai, zu Ende geht. Jeweils fünf Kinder- und fünf Jugendtheater-Inszenierungen wurden im Theater an der Parkaue, in den Sophiensælen, im Grips Podewil und in der Halle Ostkreuz gezeigt. Dieses „Festival des Theaters für junges Publikum“, das alle zwei Jahre in Berlin stattfindet, spiegelt zuverlässig den Stand des aktuellen deutschsprachigen und internationalen Theaters für eine besonders wichtige Zielgruppe wider.
Auffällig ist bei fast allen Inszenierungen in diesem Jahr die explizite, oft direkte Bezugnahme auf gesellschaftliche Prozesse. „Waisen“ vom Jungen Theater Bremen/Moks ist ein bedrückendes Kammerspiel. Zwischen drei SchauspielerInnen auf einer schrägen Bühnenplattform geht es um unterlassene Hilfeleistung, mangelnde Solidarität mit „Fremden“ und versteckten bzw. offenen Rassismus.
Zweifel an der Rolle
Stark wird die Inszenierung in dem Moment, als ein Schauspieler aussteigt und ein „Bühnentechniker“ einsteigt. Er ist Syrier und Muslim. Er fordert die Figur auf, ihn direkt mit den Vorwürfen zu konfrontieren, bleibt dann auf der Bühne und übersetzt den verbleibenden Stücktext simultan ins Arabische. Erst jetzt entstehen mehrere Ebenen: Über etwas reden wird ergänzt durch mit jemandem reden, zum Standpunkt der Figuren kommt der der DarstellerInnen.
„Jetzt bestimme ich“ von „Meine Damen und Herren/Barner 16“ in Kooperation mit Kampnagel Hamburg ist geeignet für Menschen ab 6, sollte aber auch von vielen Erwachsenen gesehen werden! Denn selten sind kollektive Entscheidungsfindungsprozesse mit so viel Humor und gleichzeitig so ernsthaft dargestellt worden.
Familie Wiefel, verkörpert durch fünf professionelle SchauspielerInnen mit geistiger Einschränkung, bemüht sich um einen Weg, jedes Familienmitglied gerecht mitbestimmen zu lassen. Inmitten von gehäkelten Requisiten probiert man sich am Mitbestimmungskarussell. Sie gehen über zur Machtaufteilung in Territorien: Wer in der Küche ist, kann jetzt den Kühlschrank leer futtern, hat aber keinen Zugang mehr zum Schlafzimmer …
Die Schildkröte Rainer Maria
Irgendwann möchten die Eltern jedem seinen Wunsch erfüllen. So ist Familie Wiefel an einem Tag nicht nur im Zoo, sondern auch im Park, auf dem Flomarkt usw. Die DarstellerInnen rasen immer schneller über die Bühne und ziehen hektisch Schildkröte Rainer Maria hinter sich her. Rainer Maria interviewt schließlich die Familienmitglieder beim Wahlkampf. Denn am Ende der einstündigen Suche nach einem demokratischen Modus Vivendi geht es darum, wer nächste Woche über alle bestimmen darf – und darüber entscheidet das Publikum. Die Mehrheit wählt Papa, denn er hat versprochen, für alle zu kochen.
„Augenblick mal!“ ist ein internationales Festival. Das Teatr Zaglebia aus dem polnischen Sosnowiec zeigt „Feind – eine Gebrauchsanleitung“. Die KAVA Theatre in Education Company aus Budapest bringt „Peer Gynt“ nach Berlin. Das Stary Dom Theater aus Nowosibirsk entdeckt in „Hamlet“ Parallelen zur heutigen russischen Gesellschaft, ergänzt den Ursprungstext und thematisiert besonders Hamlets Fremdbestimmung.
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